EU-Türkei-Gipfel Merkels zweckoptimistische Übertreibung

Meinung | Berlin · Angela Merkel hat in der Nacht einmal mehr ihre ganz eigenwillige Sicht der Dinge dargestellt: Der neue türkische Vorschlag zur Lösung der Flüchtlingskrise sei ein "Durchbruch", man sei auf dem EU-Türkei-Gipfel einen "qualitativen Schritt weitergekommen", sagte die Kanzlerin. Das, mit Verlaub, war eine zweckoptimistische Übertreibung.

 Angela Merkel beim EU-Türkei-Gipfel in Brüssel.

Angela Merkel beim EU-Türkei-Gipfel in Brüssel.

Foto: dpa, sl ms

Neben Merkel bewerteten nur führende EU-Funktionäre das Gipfelergebnis in Brüssel ähnlich positiv, viele der anderen Staats- und Regierungschefs zeigten sich skeptischer als Merkel. Auch daheim in Deutschland gibt es teilweise erhebliche Zweifel, ob der EU-Türkei-Gipfel überhaupt einen Fortschritt bedeutete, gerade in den Reihen von Merkels Union.

Bestenfalls ist in Brüssel ein mit erheblichen Umsetzungsproblemen behafteter Lösungsvorschlag konkreter geworden. Schlimmstenfalls könnte der Vorgang aber auch schon das Aus für eine "europäische Lösung" bedeutet haben, um die Merkel so sehr kämpft.

Was ist in Brüssel passiert? Die Türkei hat die EU kurzfristig überrascht mit einem ziemlich frechen Angebot, dessen Details überwiegend nicht neu waren, aber noch nie zu einem konkreten Plan zusammengefasst wurden. Der türkische Plan sieht so aus: Die Türkei nimmt alle in Griechenland illegal ankommenden Flüchtlinge wieder zurück und verstärkt ihre Anstrengungen, die Flucht nach Griechenland in Schlauchbooten zu verhindern. Für jeden einzelnen illegalen Flüchtling, der in die Türkei zurückgeschickt wird, nimmt die EU einen legalen Flüchtling mit Bleibeperspektive über Kontingente aus der Türkei auf.

Zusätzlich bezahlt die EU der Türkei nicht nur drei Milliarden Euro, sondern bis 2018 einen doppelt so hohen Betrag für die Versorgung der 2,8 Millionen Flüchtlinge in der Türkei. Sie führt außerdem die Visafreiheit für Türken nicht erst im Oktober, sondern bereits im Juni ein. Und sie eröffnet neue EU-Beitrittskapitel für die Türkei.

Ankara weiß, dass es die EU komplett in der Hand hat. Zu vermuten ist, dass die Türkei ihren Preis beim nächsten Gipfel am 17./18. März nochmals in die Höhe treiben wird. In der EU wollen viele Länder diesen Weg nicht mitgehen. Gegen Kontingente legaler Flüchtlinge aus der Türkei, die unter den EU-Ländern aufgeteilt werden müssten, wehren sich vor allem die Osteuropäer. Visafreiheit für Türken ist ihnen und vielen anderen EU-Ländern ein Gräuel. Die EU-Beitrittsverhandlungen wieder aufzunehmen, sehen viele Länder nicht ein. Mehr Geld bis 2018 aus der EU für die Türkei zu mobilisieren, dürfte da für Merkel noch die leichteste Aufgabe sein.

Für Merkel lief dieser Gipfel nicht gut. Die Kanzlerin, die sich vor dem eigentlichen Gipfel am Sonntagabend mit dem türkischen Ministerpräsidenten getroffen hatte, erweckte bei ihren EU-Kollegen den Eindruck, diesen ungeliebten Plan mit der Türkei verabredet zu haben, ohne die anderen vorher zu konsultieren. Sie bemühte sich daher in der Nacht zu erklären, dass der neue Plan "eindeutig von der Türkei" gekommen sei. Der türkische Ministerpräsident Dovutoglu habe ihr am Sonntag einen "Zettel" präsentiert, auf dem er aufgeschrieben habe, was er sich "ausgedacht" hatte.

Wenige Tage vor den drei Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt hat dieser Gipfel Merkel nicht den erhofften Auftrieb und Rückhalt verschafft. Die CDU droht deshalb nun am nächsten Sonntag sogar schwächer abzuschneiden als in den jüngsten Umfragen. Den Höhenflug der AfD hat dieser Gipfel nicht gestoppt.

(mar)
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