Interview mit Hans-Gert Pöttering zur EU-Wahl "Es sollte Mindeststandards in der Sozialpolitik geben"

Düsseldorf · Nur noch wenige Tage, dann wählt Europa sein neues Parlament. EU-Parlamentsmitglied Hans-Gert Pöttering (CDU) war von 2007 bis 2009 Präsident des Abgeordnetenhauses. Im Interview mit unserer Redaktion spricht er über die Wahl des nächsten Kommissionspräsidenten, das Handeln der Europäischen Union und die Ukraine-Krise.

Interview mit Hans-Gert Pöttering zur EU-Wahl: "Es sollte Mindeststandards in der Sozialpolitik geben"
Foto: Europäisches Parlament

Der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten bei den Europawahlen, Martin Schulz, steht derzeit in der Kritik. Vermischt er sein Amt als EU-Parlamentspräsident und den Wahlkampf in unzulässiger Weise?

Pöttering Es ist das erste Mal, dass ein Präsident des Europäischen Parlaments sich für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission bewirbt. Ein solcher Vorgang ist auch immer ein Lernprozess. Darauf muss man angemessene Antworten geben.

Man hat den Wählern versprochen, dass der Bestplatzierte bei der Wahl dann auch EU-Kommissionspräsident wird. Ein voreiliges Versprechen?

Dass wir heute überhaupt Spitzenkandidaten haben, ist das Ergebnis eines langen Prozesses. 1999, nachdem die EVP (Europäische Volkspartei) erstmals mit großem Abstand Sieger der Wahlen war, hat man uns von Seiten der Regierungschefs jemanden als Kommissionspräsidenten vorgeschlagen, der nicht das Wahlergebnis verkörperte. Wir konnten aber Romano Prodi, der kein Christdemokrat war, damals nicht verhindern. Aber ich habe mir damals geschworen: Wenn dasselbe 2004 passiert und ich dann noch etwas zu sagen habe, werden wir keinen Kandidaten akzeptieren, der nicht das Wahlergebnis repräsentiert. Heute steht im Vertrag von Lissabon, dass die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Vorschlag das Wahlergebnis zu berücksichtigen haben.

Ein Bereich wie die Sozialpolitik — sollte der nicht an Europa überantwortet werden?

Ich bin kein Anhänger von gemeinsamen Renten und Pensionen. Das wäre gar nicht finanzierbar. Es kommt ja darauf an, was der Einzelne selbst an Beitrag für die Alterssicherung leistet. Und da sollten wir die europäische Vielfalt akzeptieren. Aber es sollte Mindeststandards geben, weil Mindeststandards bei der sozialen Sicherung und der Versorgung Teil der menschlichen Würde sind.

Viele Leute können nicht verstehen, dass ein Europaabgeordneter aus Malta zehn Mal weniger Stimmen braucht als einer aus Deutschland, um gewählt zu werden. Sollte man das nicht ändern?

Wir sind eine Gemeinschaft mit 28 Staaten mit über 500 Millionen Menschen. Wenn wir ein Europäisches Parlament wollten, in dem jede Stimme das gleiche Gewicht hat, dann würden entweder nur die großen Staaten repräsentiert werden und die kleinen gar nicht. Oder wir müssten ein Parlament mit mehreren tausend Abgeordneten haben. Beide Lösungen sind nicht akzeptabel. Im Ministerrat haben wir jetzt das Prinzip der doppelten Mehrheit. Man braucht damit im Ministerrat für einen Mehrheitsbeschluss bei der Gesetzgebung 55 Prozent der Länder, die 65 Prozent der Bevölkerung vertreten. Diese Lösung halte ich für sinnvoll.

Die Ukraine-Krise ist eine Herausforderung für die EU. Wie viel Mitschuld trägt sie an der Krise?

Wir müssen die Dinge klar benennen: Russland hat eine Aggression gegenüber der Ukraine begonnen, in dem es einen Teil der Ukraine, die Krim, in das russische Staatsgebiet einverleibt hat. Wir wissen, dass es auch subversive Tätigkeiten von russischen verdeckten Streitkräften in der Ost- und der Südukraine gibt. Es gilt das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Wenn die Ukraine einen Assoziierungsvertrag mit der EU schließen wollte — und Assoziierung bedeutet keine Mitgliedschaft in der EU und schon gar nicht in der Nato — dann hat die Ukraine das Recht dazu. Es ist nicht akzeptabel, dass Russland für sich beansprucht, friedliches Handeln eines anderen Staates zu verhindern.

Anders gefragt: Zeigt die Ukraine-Krise nicht auch, dass die viel beschworene gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU weiterhin ohnmächtig ist?

Insgesamt muss man doch sagen, dass die 28 Länder der Europäischen Union in ihrem Vorgehen zusammenstehen. Es ist ein hoher Wert, dass die EU-Länder in Sachen Sanktionen gemeinsam handeln. Wenn Russland hinsichtlich der Präsidentschaftswahlen in der Ukraine weiter subversiv tätig ist, dann muss es zu einer Verschärfung der Sanktionen im wirtschaftlichen und finanziellen Bereich kommen.

Viele Menschen in der EU haben den Eindruck, dass in der EU nur noch reagiert wird auf Krisen: Schuldenkrise, Eurokrise, Ukraine-Krise. Gibt es in den Regierungszentralen denn überhaupt noch überzeugte Europäer mit einer Vision, wie sich Europa entwickeln soll?

Die Verschuldungskrise und auch die Aggression Russlands gegenüber der Ukraine machen deutlich, wie wichtig es ist, dass wir in der Europäischen Union auf der Grundlage von gemeinsamen Werten — Würde des Menschen, Menschenrechte, Rechtsordnung, Demokratie und Frieden — verbunden sind. Nur wenn wir diese Wertegemeinschaft auch als eine Solidargemeinschaft verstehen, werden wir die Herausforderungen im 21. Jahrhundert bewältigen können. Mein Eindruck ist, dass die große Mehrheit der EU-Regierungschefs dieses Bewusstsein hat. Und ich glaube, dass dies die Maßstäbe sind, die das Handeln von Bundeskanzlerin Angela Merkel bestimmen.

Matthias Beermann und Oliver Havlat führten das Interview.

(hav)
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