Interview mit EIB-Präsident Werner Hoyer „Die Ukraine wird oft unterschätzt“

Luxemburg · Nach der Annexion der Krim hat sich die Europäische Investitionsbank (EIB), bereits von Russland abgewendet. Nun engagiert sie sich für den Wiederaufbau der Ukraine. Zur Karlspreisverleihung an Präsident Wolodymyr Selenkskyj ein Interview mit EIB-Präsident Werner Hoyer über die Perspektiven der Ukraine.

Werner Hoyer, Präsident der Europäischen Investitionsbank.

Foto: EIB

Poster mit beeindruckenden Landschaften hat er sich in sein Büro in Luxemburg gehängt. Sie zeigen Brücken und wichtige Verbindungen. Die über den Isthmus von Korinth in Griechenland, die über den Öresund zwischen Dänemark und Schweden, die nahe der Schleuse des Panama-Kanals am Pazifik. Alles Projekte der Europäischen Investitionsbank (EIB). Der Präsident dieser Bank der EU, Werner Hoyer, baut längst an einer weiteren Brücke, der zwischen der Ukraine und der EU. An diesem Samstag nimmt er in Aachen im Vorfeld der Karlspreisverleihung an Präsident Wolodymyr Selenskyj und das ukrainische Volk am Europa-Forum teil.

Welche Botschaft hat die Europäische Investitionsbank für den neuen Karlspreisträger Wolodymyr Selenskyj?

Hoyer Wir haben für die Ukraine eine gute Botschaft: Wir wollen weitere Infrastrukturprojekte finanzieren, auch schon während des Krieges. Unsere Projektpipeline für die Ukraine ist voll. Nach dem Beginn der russischen Angriffe im Februar letzten Jahres mussten wir nicht lange darüber nachdenken, was nun zu tun ist. Die EIB ist bereits seit 2007 in der Ukraine tätig und hat ihre Aktivitäten seit 2014 massiv ausgeweitet. Wir haben damals, nach der Annexion der Krim, für alle unsere Geschäfte in Russland den Stecker gezogen. Zuvor lief ein riesiges Modernisierungsprogramm für die russische Wirtschaft, und als wir das stoppten, waren natürlich auch in der EU nicht alle happy. Aber der Europäische Rat hat uns ermuntert, diesen Weg zu gehen. Am Tag des Kriegsbeginns hatten wir Projekte für über sieben Milliarden Euro in der Ukraine in der Umsetzung.

Was ist seit dem Beginn der russischen Angriffe dazugekommen?

Hoyer Vieles hat im Krieg schwer gelitten, was für die Grundversorgung der Bevölkerung wichtig ist: Krankenhäuser, Schulen, Energieversorgung, Infrastruktur. Da engagieren wir uns jetzt ganz besonders, seit Beginn der Angriffe mit über zwei Milliarden Euro zusätzlich.

Wenn Sie ab 2014 so viel Infrastruktur in der Ukraine finanzierten – wie wirkt das dann auf Sie, wenn Sie die Bilder von den Zerstörungen durch russische Bomben sehen?

Hoyer Das ist brutal, und es ist nicht ohne Belang für unsere Möglichkeiten. Wir sind ja keine Wohltätigkeitsorganisation, sondern eine Bank. Wir verleihen Geld und wollen es wiederhaben. Um investieren zu können, müssen wir uns auf den Kapitalmärkten jedes Jahr zwischen 70 und 100 Milliarden besorgen. Da stellt sich für Kapitalgeber natürlich die Frage, ob sie uns etwas leihen, wenn sie sehen, dass wir in Projekte investieren, von denen einige anschließend von den Russen zerschossen werden. Deshalb brauchen wir für die teilweise hochriskanten Vorhaben eine Risiko-Absicherung durch Garantien. Wir haben hier leider aktuell eine Lücke, die versuchen wir mit Hilfe der EU und ihren Mitgliedstaaten über einen neuen Fonds, den EU for Ukraine Trust Fund, zu schließen. Einige Länder haben sich schon sehr erfreulich engagiert, Italien zum Beispiel mit 100 Millionen auf einen Schlag.

Müssen Sie einige Finanzierungen in der Ukraine abschreiben?

Hoyer In diesem Krieg wurde einiges zerstört. Deshalb ist es nicht so gut, dass wir in Europa im Moment fast ausschließlich über die militärische Unterstützung für die Ukraine sprechen, aber nicht über die ökonomische. Dabei ist diese Dimension überaus wichtig. Denn die Ukraine funktioniert zu 70 Prozent. Produktion, Steuereinnahmen, Korruptionsbekämpfung – all das ist auf gutem Weg. Zum Beispiel wurde eine Brücke, die wir finanziert hatten, von den Ukrainern selbst zerstört, als auf der anderen Flussseite russische Panzer anrollten. Nun sind die Russen weg und wir sollen den Wiederaufbau finanzieren. Wie gehen wir damit um?

Ja, wie gehen Sie mit dem Wiederaufbau um?

Hoyer Viele sprechen davon, dass es erst nach dem Ende der Kriegshandlungen um den Wiederaufbau gehen wird. Das ist falsch. Der Wiederaufbau muss jetzt starten. Damit stärken wir die Widerstandskraft der Ukrainer.

Was wird der Wiederaufbau kosten? Manche schätzen 400 Milliarden, andere 900.

Hoyer Das weiß niemand, nur, dass es Riesensummen sein werden. Der Überbietungswettbewerb bei diesen Zahlen ist nicht gut, weil er verunsichert. Das Wichtigste ist, schnell zu handeln. Je später die Reparatur der Infrastruktur beginnt, desto höher wird die Rechnung sein.

Die Nachbarstaaten sind besonders herausgefordert durch Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine. Hat die EIB die auch auf dem Schirm?

Hoyer Auf jeden Fall. Als wir die für Russland vorgesehenen Projekte umgewidmet haben, gingen die Mittel nicht nur in die Ukraine, sondern auch nach Georgien, Moldawien und andere Länder der Region. Daneben haben wir wenige Wochen nach Beginn des Krieges für Flüchtlingsunterbringung in den Nachbarländern vier Milliarden Euro bereitgestellt.

Welche Perspektiven sehen Sie für die Ukraine?

Hoyer Langfristig eine gute. Die Korruptionsbekämpfung ist allerdings ein entscheidender Punkt: Wir unterstützen das Land mit vollen Kräften, aber wir sind nicht die Sparkasse der Ukraine. Wir überweisen nicht mal eine Milliarde und gucken, was das Land damit macht, sondern wir schauen sehr genau auf unsere Projekte, und wir zahlen immer erst mit dem Baufortschritt aus, sozusagen Stein für Stein. Ich bin alles andere als naiv bei dem Thema Korruption, denn ich habe mit den früheren Regierungen in der Ukraine zu tun gehabt. Da haben uns die Haare zu Berge gestanden. Doch was auf diesem Feld jetzt unter der Regierung Selenskyj passiert, ist ausgesprochen ermutigend. Wir bemühen uns intensiv darum, die auf östliche Technik ausgerichtete Infrastruktur auf westliches Niveau zu bringen. Da geht es um den Verkehr genauso wie um dezentrale Energieerzeugung.

Heißt das, dass für andere Projekte in der EU und in der Dritten Welt weniger Geld zur Verfügung steht?

Hoyer Eindeutig nein. In Europa haben wir die Finanzierung neuer Klimaprojekte erheblich ausgeweitet. Und wenn uns Partner in Afrika vorwerfen, wir würden nur noch die Ukraine finanzieren, muss ich sagen: Das ist absoluter Quatsch. Unsere Abteilung für globale Projekte hat 2022 gegenüber den Vorjahren die Finanzierungen um 50 Prozent ausgeweitet. Wir haben unser Engagement nicht nur in der Ukraine gesteigert, sondern in jeder Region. Denn es ist doch völlig klar: Die großen Ziele in der Klimapolitik wird die EU nur mit unseren globalen Partnern zusammen hinbekommen. Bei der Produktion großer Mengen grünen Wasserstoffs sind wir auf den globalen Süden angewiesen – und sollten den dort produzierten Wasserstoff auch für den Aufbau neuer Wertschöpfungsketten vor Ort einsetzen, und nicht nur bei uns im Norden.

Wie sehen Sie einen EU-Beitritt der Ukraine?

Hoyer Die Ukraine wird oft unterschätzt. Die Ukraine ist hochindustrialisiert, hat immens kompetente Arbeitskräfte. Im Hinblick auf die Digitalisierung können viele EU-Länder von der Ukraine noch manches lernen. Wir hören von ukrainischen Flüchtlingen in Deutschland die Klage darüber, dass sie hier für jede Kleinigkeit aufs Amt gehen müssen, was in ihrer Heimat längst online erledigt werden kann. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass mit der Ukraine ein Entwicklungsland in die EU kommt. Ja, da müssen noch administrative Schwächen bearbeitet werden, aber die Ukraine ist ein starker Wirtschaftspartner.

Sie blicken jetzt auf fast zwölf Jahre als EIB-Präsident zurück: Welche Entwicklung sehen Sie?

Hoyer Als ich mich damals nach fast 25 Jahren aus dem Bundestag verabschiedete, war deutlich zu spüren, dass die EIB bei meinen Abgeordneten-Kollegen weitgehend unbekannt war. Und hier in Luxemburg gab es die Überzeugung: Jeder Tag, an dem die EIB nicht in der Zeitung steht, ist ein guter Tag. Das war in Zeiten der Finanzkrise auch nicht mal so schlecht. Wir sind nicht ins Gerede gekommen. Aber auch nicht ins Gespräch. Das haben wir geändert. Wir sind das Instrument, mit dem die EU ihre strategischen Ziele im Innern wie im Äußeren verfolgt, und das müssen die Menschen wissen. Wenn einem Finanzminister nicht bewusst ist, wer wir sind und was wir leisten können, verpasst er eine riesige Chance für Investitionen. Denn die EIB hat ein größeres Portfolio als die Weltbank.

Sie sind bei jeder Sitzung der EU-Finanzminister dabei, die um einen neuen Stabilitätspakt ringen. Sind die Finanzen Europas stabil genug?

Hoyer Ja, das denke ich generell schon. Allerdings muss ich auch klar sagen: Wenn der Stabilitätspakt nur noch eine Fassade ist, an den sich kein Land mehr hält, selbst Deutschland nicht, dann haben wir ein Problem. Ich möchte aber auch klar sagen, dass wir bei Zukunftsinvestitionen nicht mutig genug sind: Wir leben nicht mehr in den Gründerjahren der EU, als 39 Prozent der Weltproduktion europäisch war. Dieser Anteil ist auf nur noch 13 Prozent gesunken, und die großen politischen und ökonomischen Pole liegen längst woanders. Deshalb brauchen wir mehr Mut, gemeinsam europäische Projekte wie die Energiewende zu stemmen.