Gemeinsame Erklärung von EU und Nato Die unsichere neue Sicherheitsarchitektur

Meinung | Brüssel · 14 Punkte, eine Überzeugung. Im Brüsseler Hauptquartier der Nato unterstreichen die Spitzen des Bündnisses und der Europäischen Union, wie sie Europa gemeinsam gegen russische Aggression absichern wollen. Doch die Deklaration und die Wirklichkeit klaffen Anfang 2023 noch weit auseinander.

 Händedruck nach Unterzeichnung: EU-Ratspräsident Charles Michel, Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (v. l.) am Dienstag in Brüssel.

Händedruck nach Unterzeichnung: EU-Ratspräsident Charles Michel, Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (v. l.) am Dienstag in Brüssel.

Foto: dpa/John Thys

Die gemeinsame Erklärung von Europäischer Union und Nordatlantischer Allianz markiert eine wichtige Änderung der Sicherheitsarchitektur. Diese hatte auch Russlands Präsident Wladimir Putin mit dem Krieg gegen die Ukraine verändern wollen. Doch was da nun in Brüssel für eine Milliarde Menschen vereinbart wurde, ist ganz anders, als Putin es geplant hatte.

Der Kreml-Herrscher wollte mit dem Krieg Russland bedeutender, sein Gebiet größer und seinen Einfluss stärker machen. In seiner, auch im Westen von vielen geteilten Wahrnehmung sollte das eine Sache von wenigen Tagen sein. Als das nicht klappte, erwartete er wenigstens die Spaltung des Westens in der Frage der Ukraine-Unterstützung binnen Wochen. Aber auch nach elf Monaten ist sein Vorhaben in Teilen vorerst gescheitert. Der Krieg hat die Bedeutung Russlands zumindest bei der konventionellen Kriegsfähigkeit verkleinert, ein Fünftel der Ukraine ist nun zwar von Russland besetzt, aber nicht sicher, und der Einfluss Russlands in der Welt hat sich ähnlich verringert wie seine Wirtschaft vor dem Kollaps steht.

Auf der anderen Seite haben sowohl die Nato als auch die EU zu einer unerwarteten Stärke gefunden. Es ist bislang erstaunlich gut gelungen, dem Opfer der Aggression entsprechend des Völkerrechtes wirkungsvoll beizustehen, ohne Kriegspartei zu werden. Die Nato hat einen neuen Zweck als stabilisierender Faktor gefunden, und mit der EU zusammen ergeben sich durch die neue, auf Russlands Krieg zugeschnittene Deklaration weitere Perspektiven. Wenn Schweden und Finnland endlich ratifizierte Mitglieder der Nato sind, hat die Nato ihren Schutz auf 96 Prozent der EU-Bürger ausgeweitet. Andererseits arbeitet die EU daran, diesen Schutz zu optimieren. Etwa durch Milliarden-Investitionen in die Fähigkeiten europäischer Streitkräfte und deren Mobilität innerhalb Europas.

Doch das ist nur der Stand vom Tag der Unterzeichnung in Brüssel Anfang 2023. Auf beiden Seiten lauern Unwägbarkeiten. Da ist die Neigung in weiten Teilen der westlichen Öffentlichkeit, die Erzählungen Putins für bare Münze zu nehmen. Der Unsinn, in der Ukraine werde nur ein „Stellvertreterkrieg“ geführt, bei dem sich Russland nur zu verteidigen versuche, greift immer mehr um sich und ermuntert Putin, an den Erfolg seiner Kampagne zu glauben. Das Vorrücken russischer Truppen bei Bachmut im Osten der Ukraine verweist zugleich darauf, dass die Vorstellung von einer zügigen Rückeroberung ukrainischen Terrains genauso irrational war wie die Erwartung, Russland habe nicht mehr viele Reserven. Putin mobilisiert tatsächlich die ganze Kraft seiner gewaltigen Waffenschmieden, um die Gewichte in der Ukraine zu drehen.

Zur Wahrheit über die neue Sicherheitsarchitektur gehört auch, dass es Putin gelungen ist, den Balkan massiv zu destabilisieren und im Nahen Osten mit der Stärkung des iranischen Waffenbruders das Potenzial eines verheerenden Konfliktes zu schaffen. Die Welt ist damit trotz des Verlässlichkeit, Entschlossenheit und Stabilität beschwörenden EU-Nato-Papieres vom Abgrund einer Katastrophe nicht weiter entfernt als vor elf Monaten.

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