Streit um die EU-Taxonomie Die fragwürdige Jein-Tradition Deutschlands

Analyse | Brüssel · Wenn die einen ein Ja wollen, die anderen auf einem Nein bestehen, finden Koalitionen gerne zur gemeinsamen Enthaltung. So war es bei Deutschlands Haltung zum Libyen-Bombardement. So zeichnet es sich wieder bei der Atomkraft-Taxonomie der EU ab. Warum es tatsächlich eine Farce ist.

 Europaflaggen vor der EU-Kommission in Brüssel.

Europaflaggen vor der EU-Kommission in Brüssel.

Foto: dpa/Zhang Cheng

Das neue Jahr begann nicht gut für die Regierungsgrünen. Intern waren sie zwar in die vertraulichen Verhandlungen der EU-Kommission eingebunden, die sogar noch über die Weihnachtstage angedauert hatten. Doch als in der Silvesternacht der Vorschlag bekannt wurde, Atom- und Gaskraft als Orientierung für Investoren mit dem Klimaqualitätssiegel als nachhaltige Energie auszustatten, war die Empörung groß. Sollte die Ampelkoalition, die sich eine besondere Europafreundlichkeit auf die Fahnen geschrieben hat, deswegen ihr Wirken auf Europaebene mit einem Stopp eines europäischen Projektes starten? Schnell war ein Ausweg gefunden, kolportierten die Medien als neue Linie, dass sich Deutschland in dieser Frage enthalten werde.

Da war sie wieder, die berühmte deutsche Enthaltung.Wenn es in heiß diskutierten Fragen eng wird und es zum Schwur kommt, einigen sich deutsche Koalitionen gerne darauf, den zuständigen Minister mit der Maßgabe einer Enthaltung nach Brüssel zu schicken. So war es Anfang 2014, als CSU und SPD einen neuen Genmais in Europa verhindern wollten, für die CDU aber die Vorteile der manipulierten Züchtung überwogen. Gegen seine innere Überzeugung packte der seinerzeitige Agrarminister Hans-Peter Friedrich die Losung „Enthaltung“ als deutsches Votum auf den Tisch.

Drei Jahre zuvor hatte es beim deutschen Jein einen spektakulären Vorgang im Weltsicherheitsrat gegeben. In der 6489. Sitzung des Gremiums ginges am 17. März 2011 um die Ermächtigung aller „notwendigen Maßnahmen“ zum Schutz der vom Militär des libyschen Machthabers Gaddafi bedrohten Zivilpersonen in Bengasi. Es war der Auftakt für eine Unterstützung der Aufständischen durch Nato-Luftangriffe auf Regierungstruppen. Unter den Befürwortern waren sämtliche westlichen Mächte. Es gab keine Gegenstimmen. Also hatte sich Deutschland als damaliges nichtständiges Mitglied enthalten und sich damit an die Seite Chinas und Russlands gestellt. Schon zuvor hatte sich die deutsche UN-Delegation fünf Mal enthalten. Allerdings entsprach dieses jeweils einem einheitlichen Verhalten der Westmächte.

Auf das Vorhaben der Weltgemeinschaft hatte Deutschlands Enthaltung keinen Einfluss. Damit eine Resolution angenommen wird, braucht es neun von 15 Ja-Stimmen, wobei die fünf Ständigen Mitglieder über ein Veto verfügen. Der indische Diplomat Chinmaya Gharekan hat nach jahrzehntelanger Erfahrung die unterschiedlichen Wirkungen einer Enthaltung in dem Spitzengremium für Krieg und Frieden auf einen bemerkenswerten Punkt gebracht: Enthält sich eine Vetomacht, ist es wie ein Ja, denn mit einem Nein wäre die Resolution gescheitert. Enthält sich ein nichtständiges Mitglied, ist es wie ein Nein, denn es riskiert damit, dass die nötigen Ja-Stimmen fehlen. Allerdings kommen strittige Resolutionen oft gar nicht erst zur Abstimmung.

Schon an diesem Beispiel wird klar, dass eine Enthaltung selten bedeutet, sich nicht doch eindeutig positioniert zu haben. So verhält es sich auch bei der Taxonomie. An diesem Mittwoch endet die sogenannte „Erklärungsfrist“, bis zu der die EU-Kommission Rückmeldungen der 27 Mitgliedsländer zu dem Vorschlag in Sachen Atom und Gas erwartet. Um das Vorhaben zu stoppen, müssen 20 Staaten ihren Widerspruch einlegen. Das bedeutet, dass überhaupt nicht danach gefragt wird, ob Deutschland aktiv zustimmt oder sich enthält. Stimmt es nicht dafür, ist der Effekt eindeutig: Das Ding kommt zustande. Mit seiner Mehrheit könnte auch das EU-Parlament die Atom-Taxonomie aufhalten. Aber auch hier denkt die Mehrheit anders über Nuklearenergie als Deutschland.

Beliebt sind Enthaltungen auch im deutschen Föderalismus. Da ist es sogar üblich, in Koalitionsverträgen das Abstimmungsverhalten in Streitfällen festzuschreiben. Beispiel CDU-FDP-Landesregierung in NRW, Koalitionsvertrag 2017-2022, S. 120: „Kommt eine Einigung über das Abstimmungsverhalten bei weiteren Bundesratsangelegenheiten nicht zustande, wird sich das Land Nordrhein-Westfalen im Bundesrat der Stimme enthalten.“ Klingt wie ein Ausweg, interessiert faktisch aber niemanden. Selbst in den NRW-Ausführungen zum Abstimmungsverhalten in der Länderkammer ist nie von Enthaltungen die Rede, sondern nur festgehalten, dass das Land einer Angelegenheit zugestimmt, einer anderen „nicht beigetreten“ sei.

Das wird deutlich am Beispiel einer Initiative von Berlin, Hamburg, Thüringen, Brandenburg und Bremen, den Paragrafen 219 zum Werbeverbot für Abtreibungen zu streichen. Die NRW-CDU lehnt das ab, die NRW-FDP ist dafür. Keine Einigung, also Enthaltung zu dem Antrag, das Vorhaben in den Bundestag zu bringen. Am Ende der Beratungen in der September-Sitzung rief der Bundesratspräsident zur Abstimmung, zählte die Ja-Stimmen und stellte fest, dass die Initiative keine Mehrheit hatte. Ob NRW sich enthielt, interessierte keinen, wurde nicht einmal registriert. Die CDU hatte im Ergebnis ihr Nein, die FDP aber kein Ja. Enthaltung? Ohne Belang!

So läuft es seit fast 2000 Jahren. Schon der römische Statthalter Pontius Pilatus wusch laut Evangelisten seine Hände in Unschuld, gab damit vor, sich in der Frage der Bestrafung des Beschuldigten zu enthalten. Tatsächlich aber war er zuständig für die Kreuzigung, war seine vorgebliche Nicht-Beteiligung faktisch ein Todesurteil. Ein Nein hätte die Hinrichtung verhindert. Eine Enthaltung bleibt eine Farce.

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