Gemeinsames Asylsystem Die EU-Migrationspolitik im Licht der Solinger Bluttat
Brüssel · Der Kanzler will als Reaktion auf Solingen Veränderungen des Europarechtes. Doch das ist gerade erst in einem Kraftakt geändert und massiv verschärft worden. Wann das neue EU-Asylsystem zu wirken beginnt, und warum die Europa-Grünen sich gegen Denkverbote aussprechen.
Nach den Morden von Solingen steht die EU vor einer neuen Migrationsdebatte. Wegen der unterbliebenen Rückführung des Tatverdächtigen nach Bulgarien geht es einerseits um das Funktionieren der europäischen Dublin-Regelung, wonach der Staat, in dem ein Schutzsuchender erstmals EU-Boden betritt, auch für dessen Asylverfahren zuständig ist. Auf der anderen Seite hat Bundeskanzler Olaf Scholz bei einem Besuch in Solingen auch eine neue Initiative in Brüssel angekündigt: „Manches wird europarechtlich geändert werden müssen,“ sagte der SPD-Politiker. In den Gesetzgebungsorganen in Brüssel wird dieser Vorstoß sehr unterschiedlich bewertet - zumal die Scholz-Regierung selbst gerade maßgeblich an einer Neufassung des EU-Asylrechtes beteiligt war.
Erst im April hatte das Europaparlament und im Mai der Rat der Mitgliedsländer den Weg für ein als historisch bewertetes Gemeinsames Europäisches Asylsystem (Geas) endgültig frei gemacht. Damit soll genau das erreicht werden, was nun als neue politische Forderungen als Konsequenz aus dem offenbar islamistisch motivierten Attentat von Solingen diskutiert wird: Beschleunigte Abschiebung, begrenzte illegale Migration, schnellere Verfahren, europäisch einheitliches Vorgehen und mehr Solidarität stehen im Mittelpunkt jener zehn Rechtsakte, deren Umsetzung in den 27 Mitgliedsländern gerade begonnen hat.
Lena Düpont, CDU-Europaabgeordnete und Geas-Verhandlerin, weist darauf hin, dass die Mitgliedstaaten bis Dezember die nationalen Umsetzungspläne vorlegen müssten. Jedes Land dürfe natürlich schneller vorangehen. „Die Wirkung bleibt aber, das haben wir immer kommuniziert, eine mittelfristige“, schränkt Düpont ein. Deshalb komme der Bundesregierung angesichts der angespannten Lage in den Kommunen und gescheiterter Integration besondere Verantwortung zu. „Der Pakt kann nicht zaubern, aber den Einsatz gegen irreguläre Migration vom Kopf auf die Füße stellen“, fasst Düpont zusammen. So werde künftig mit den Grenzverfahren verhindert, dass Menschen in der EU verteilt würden, die keine Aussicht auf einen Schutzstatus hätten.
Die Geas-Verhandlerin der Sozialdemokraten, Innenexpertin Birgit Sippel, stellt angesichts der aktuellen Debatte klar: „Menschen, die vor Krieg oder politischer Verfolgung fliehen, verdienen Schutz, auch in Deutschland.“ Viele lebten und arbeiteten in Deutschland. Eine Ausgrenzung ganzer Gruppen aufgrund ihrer Nationalität sei Hetze und widerspreche dem Grundgesetz. Als Kernelemente der neuen EU-Regelungen stellt Sippel die umfassende Registrierung bereits in Staaten mit Außengrenzen und die klaren Regeln für die Zuständigkeit zur Prüfung des Asylantrages heraus.
Eine Verknüpfung der Morde in Solingen mit europarechtlichen Konsequenzen können die EU-Experten nicht nachvollziehen. Hier müsse europarechtlich wenig geändert werden, denn die bulgarischen Behörden hätten dem deutschen Ersuchen ja zeitnah stattgegeben, erläutert Düpont. Auch Sippel verlangt stattdessen eine Klärung, warum der Tatverdächtige nicht, wie mit Bulgarien vereinbart, aus NRW zurückgeführt wurde.
Geas-Verhandler Erik Marquardt von den Grünen sieht mit Blick auf Solingen andere Fragen im Vordergrund: „Wie sich die islamistische Szene entwickelt, wo die Radikalisierung stattfindet und wie Sicherheitsbehörden früher eingreifen können.“ Dazu gehörten die richtigen Befugnisse für die Behörden. „Da müssen wir auch europarechtlich schauen, wie die Behörden grenzüberschreitend noch besser zusammenarbeiten können“, stellt der Chef der deutschen Grünen-Gruppe im Europaparlament fest. Und er fügt ausdrücklich hinzu: „Da sollte es keine Denkverbote geben. Wir sind als Grüne für alles offen, was wirklich hilft.“
Marquardt rechnet damit, dass die Umsetzung des neuen EU-Asylrechts in einigen Ländern sicherlich schneller gehen, in anderen aber auch länger dauern werde. Er verweist darauf, dass für die vorgeschalteten Asylverfahren die Anlagen erst noch geschaffen werden müssten. „Wenn wir sehen, welche Widerstände vor Ort in Deutschland angesichts schon kleiner Unterkünfte entstehen, ist leicht vorstellbar, dass der Bau von Aufnahmezentren für 3000 Migranten an den Außengrenzen auch länger dauern kann. Und er befürchtet, dass auch das neue Recht „nicht anständig umgesetzt wird und es noch mehr Chaos und Leid“ geben werde. Entgegen den einschlägigen geltenden Vorschriften, registrierten Länder an den EU-Außengrenzen einfach nicht, weil sie dann für alle Verfahren zuständig wären. „Wir sollten uns das von den Außengrenzenstaaten nicht länger bieten lassen“, verlangt Marquardt. Zugleich warnt er vor Schnellschüssen, weil Gesetzesverschärfungen „erst einmal nur auf dem Papier“ stünden. So bedauert Marquardt, dass Politiker in der Migrationspolitik immer wieder Erwartungen weckten, die nicht erfüllt werden könnten. „Populismus hilft aber nicht gegen Islamismus“, stellt er fest.