Debatte in Straßburg Was tut die EU, wenn der Ukraine die Kraft ausgeht?
Straßburg · Die kritische Situation der Ukraine war Thema des letzten EU-Gipfels, sie ist Thema des nächsten. Putin hoffe auf die Kriegsmüdigkeit der Verbündeten, heißt es. Doch die Abgeordneten interessieren sich schon für andere Themen.

Ein Jahr Krieg in der Ukraine
Es ist der 385. Kriegstag, an dem das EU-Parlament in Straßburg eine Premiere erlebt. Erstmals stellen sich an diesem Mittwoch Kommissionspräsident Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel den Parlamentariern nicht nur, um die Ergebnisse des zurückliegenden EU-Gipfels im Februar mit ihnen zu beraten, sondern auch die Erwartungen auf den nächsten in der folgenden Woche zu unterstreichen. Bei beiden stand und steht die bedrohliche Situation in der Ukraine auf der Tagesordnung. Aber die meisten Politiker haben andere Prioritäten. Wettbewerbsfähigkeit, Energiepreise, Bürokratieabbau. Ein Vorgeschmack auf das, was die EU tut, wenn der Ukraine die Kraft ausgeht?
Bemerkenswert ist angesichst der EU-Positionierung gegen den russischen Angriffskrieg mit Sanktionen und Waffenlieferungen, dass deren schärfste Kritiker sich auf rechtspopulistische Identitäre, unabhängige Abgeordnete und Linke konzentrieren. Die von der neofaschistischen italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni angeführten Konservativen und Reformer (EKR) drücken ausdrücklich ihre Unterstützung für das ukrainische Volk aus, das „weiterhin Widerstand leisten muss gegen die russische Invasion“, wie es der Abgeordnete von Melonis Fratelli-Partei, Nicola Procaccini, unterstreicht.
Gleichzeitig geht 2700 Kilometer östlich von Straßburg in Bachmut das grausame Blutvergießen weiter. Seit Wochen starten die Russen immer neue Angriffswellen, verzeichnen trotz hoher Verluste kaum Geländegewinne. Aber auch die Ukrainer haben zunehmende Probleme, eine wachsende Zahl von Gefallenen und einen schwindenden Vorrat an Munition zu beklagen. Sollten die Schätzungen von Militärexperten zutreffen, liegt das Verhältnis der Verluste zwischen 1:5 und 1:7. Es ist für junge Russen ein furchtbarer Albtraum, derart verheizt zu werden. Doch angesichts von angeblich bereits über 100.000 gefallenen russischen Soldaten hat das russische Militär längst klargemacht, es spiele letztlich keine Rolle, ob Russland auch eine Million Soldaten in die Ukraine schicke. Diese Reserven hat die Ukraine nicht.
„Putin hofft auf die Kriegsmüdigkeit der Verbündeten“, analysiert die Chefin der europäischen Sozialdemokraten, Iratxe Garcia Perez in der zentralen Debatte des Europa-Parlamentes am Mittwoch. „Wir dürfen nicht nachlassen“, lautet ihr Appell. Doch dann geht sie schnell zu anderen Anliegen über, etwa den Schutz vulnerabler Gruppen in der EU angesichts der Kostensteigerungen bei Lebensmitteln, Energie und Wohnen in Folge des Krieges.
Ja, es ist auch der Tag, an dem Polen ankündigt, Dutzende MiG-29 Kampfjets der Ukraine zu liefern, an dem auch die Slowakei zehn MiGs überstellen will. Aber das wird noch ein bis zwei Monate dauern. Derzeit befinden sich ukrainische Soldaten in der Ausbildung an westlichen Kampfpanzern in mehreren EU- und Nato-Ländern. Auch das braucht Zeit. Und die Frage bleibt, ob die Stärkung eine nachhaltige Wende im Geschehen eines Krieges bringen kann, den Putin offenbar auf Jahre angelegt hat. Seine Fabriken sind auf Kriegswirtschaft umgestellt, füllen systematisch die Lücken auf.
Zwischen 20.000 und 50.000 Artilleriegranaten habe Russland in den letzten Wochen pro Tag abgefeuert, sagt Michel. Die EU-Länder verweisen darauf, dass auch sie die Ukraine beliefert haben. Insgesamt sollen es in einem Jahr bereits fast 400.000 Stück schwerer Geschosse gewesen sein. In russischen Dimensionen gerechnet, entspricht das folglich dem Verbrauch im Zeitraum von einer bis drei Wochen. Experten beschreiben allerdings einen Unterschied: Russland kämpft mit maßlosem Flächenbeschuss, die Ukraine eher punktuell und mit einer Kombination verschiedener Waffensysteme. An einem Fakt kommen sie jedoch nicht vorbei: Wer in Bedrängnis gerät, braucht mehr Munition. Es ist der aktuelle Zustand und die aktuelle Sorge der Ukraine.
Am Nachmittag vertieft das Parlament die Debatte. Die Abgeordneten wollen wissen, was Europa tun kann, um mehr Munition zu liefern. EU-Kommissarin Maired McGuiness erinnert zunächst daran, dass die EU-Mitglieder „schon viel“ geleistet hätten, nämlich Lieferungen um Wert von zusammen zwölf Milliarden Euro. Tatsächlich habe die Ukraine die Kommission vom „dringenden“ Bedarf an 155-Millimeter-Artilleriemunition informiert. Die gute Nachricht der Kommission: Man habe in der EU 15 Hersteller in elf Ländern identifiziert. Die schlechte Nachricht: Alles seien durch anderweitige Bestellungen gebunden. Aber perspektivisch gebe es ein gutes Potenzial in der EU. Der deutsche CDU-Sicherheitsexperte Michael Gahler meint daraufhin: „Die Zeit zählt“, die EU-Länder hätten schon im vergangenen Jahr zuviel Zeit verloren, Deutschland eingeschlossen. Er appelliert an die Hersteller, nicht erst auf staatliche Aufträge zu warten, sondern sofort die Produktion hochzufahren.
Für den Rat berichtet Schwedens Europaministerin Jessika Rosswall von einem „Dreiphasen-Ansatz“ zur Artillerie-Munition, nach dem die EU-Länder schnell aus ihren Beständen liefern, gemeinsame Beschaffungen starten und die Lieferketten verbessern sollten. Die Beratungen darüber liefen. „Ende März“ werde sich der Außenrat wieder damit befassen.
Ahnend hat am Morgen bereits der rumänische nationalliberale Abgeordnete Ioan-Rares Bogdan gewarnt: „Wenn die Ukraine fällt, sind wir auch nicht sicher.“