EU-Vorgaben für Wirtschaft und Verbraucher Das durchgeplante neue Europa

Brüssel · Grüner Umbau, ambitioniertes Energiesparen, null Emissionen. Fast im Wochentakt legen die EU-Gremien neue Projekte auf den Tisch. Welche Grundrichtung steckt dahinter. Und ist sie auch in sich stimmig und realistisch?

 Auch Solarzellen und Windräder, wie hier im bayerischen Kitzingen, sollen vermehrt aus europäischer Produkton kommen.

Auch Solarzellen und Windräder, wie hier im bayerischen Kitzingen, sollen vermehrt aus europäischer Produkton kommen.

Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbrand

Eine Linie, das wissen nicht nur Mathematiker, besteht aus unendlich vielen Punkten. Die große Linie für das neue Europa soll den Kontinent klimaneutral machen, weltweit wettbewerbsfähiger gestalten, gendergerecht sein, die Abhängigkeit von anderen Regionen verringern, den Wohlstand für alle mehren, die Demokratie stärken und den globalen Klimakollaps verhindern. Derzeit bringen die drei EU-Gesetzgeber Kommission, Rat und Parlament in nahezu jeder Woche neue Punkte auf den Weg. Dabei ist jedoch die Linie immer weniger zu erkennen.

Wer sich darum bemüht, sie in jedem einzelnen neuen Projekt zu erkennen, muss durch viele Zahlen durch. Drei Beispiele:

Der jüngste Verschlag für das Kritische-Rohstoffe-Gesetz enthält in seinem Kern die Vorgaben, bis zum Jahr 2030 mindestens zehn Prozent des Jahresverbrauchs in der EU selbst zu fördern, mindestens 40 Prozent selbst zu verarbeiten, mindestens 15 Prozent aus Abfällen selbst zu recyclen und nicht mehr als 65 Prozent bei jedem der 16 wichtigsten seltenen Rohstoffe aus einem einzigen Drittland zu beziehen. Das macht sie zu einer Anti-China-Gesetzgebung, denn bei einzelnen Rohstoffen liegt die Abhängigkeit von dem Land bei über 95 Prozent.

Oder das Netto-Null-Industrie-Paket: Danach soll bis 2050 der Netto-Ausstoß von Treibhausgasen in der gesamten Industrieproduktion auf Null gebracht, bis 2030 der Anteil der in der EU produzierten klimafreundlichen Techniken, wie Windräder, Wärmepumpen oder Sollarkollektoren auf 40 Prozent geschraubt werden.

Oder das berühmte Verbrenner-Aus. Die Autoindustrie muss die gesamte Flotte ihrer neuen Autos in derart großem Umfang auf Elektro- oder Wasserstoffantrieb umstellen, dass sich - gemessen an den Verhältnissen im Jahr 2021 - der Gesamtausstoß an CO2 ab 2025 um 15 Prozent, ab 2030 um 37,5 Prozent und ab 2035 um 100 Prozent reduziert.

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Die Präsidenten der Europäischen Kommission

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An diesem Beispiel ist bereits zu erkennen, was aus den Ursprungsvorschlägen wird, wenn sie den Weg durch Rat und Parlament hinter sich haben. „Nicht ambitioniert genug“, meinen die Politiker regelmäßig, und heben die Vorgaben gerne an. In zähen nächtlichen Verhandlungen kommen dann Kompromisswerte zustande. Wie etwa bei den jüngsten Verständigungen zur Energieeffizienz. Das Ziel besteht nun darin, im Vergleich zu 2020 exakt 11,7 Prozent Einsparung bis 2030 zu erzielen. Die jährlichen Energieeinsparverpflichtungen werden mit 1,49 Prozent vorgegeben, die allerdings schrittweise auf 1,9 Prozent steigen sollen. Exakter lässt sich kaum noch planen. Es müsste nun nur noch irgendwie funktionieren.

Damit das klappt, müssen die Mitgliedstaaten eigentlich jede einzelne Vorgabe auf die Verhältnisse in jeder Branchen, jeder Region, jeder Stadt und jeder Wohnung runterrechnen. Aber in den meisten Fällen bleibt es dann bei Anregungen. Denn vor einer zu starken Drangsalierung der Verbraucher in ihrem Verhalten schrecken Politik und Behörden zu Recht zurück. So bleibt es denn in vielen Bereichen bei der klaren Arbeitsteilung: Der Bürger protestiert gegen „die“ Politik, die viel stärkere Klimaschutzziele entwickeln müsse, die EU legt dann genau diese Pläne vor, aber wie viel jeder EU-Bürger dann mit Auto oder Flugzeug, Fahrrad oder Bahn zurücklegt, wieviel Strom er verbraucht oder spart, bleibt ihm überlassen.

Ein weiteres Problem: Für die EU-Kommission bedeutet es nur das Aufschreiben eines Satzes, wenn sie in der Kritische-Rohstoffe-Strategie vorgibt, dass die Genehmigung neuer Bergwerke nicht mehr zehn Jahre, sondern nur noch 24 Monate dauern soll. Wie das vor Ort gesehen wird, wenn die Flächennutzungspläne, Umweltgutachten, Bürgerbeteiligungen und die vielen anderen Voraussetzungen nur noch ruckzuck und ohne mehrstufige Rechtssprechung angepasst werden sollen, steht im Gesetzentwurf nicht.

Das sind erst drei Lücken auf der großen Linie. Es gibt weitere. Da ist der Bezug zum globalen Effekt. Wenn die EU sich nur um die Neuzulassung von Autos in Europa kümmert, nicht aber zugleich um die Voraussetzung einer zur E-Mobilität passenden Lade-Infrastruktur auf Straßen und und in Wohnsiedlungen, dann befördert sie bestenfalls den Frust der eigenen Bevölkerung. Und wenn sie dann außer Acht lässt, dass in vielen anderen Weltregionen die Anzahl an Verbrenner-Autos in den nächsten Jahrzehnten eher noch zunehmen wird, dann erreicht nicht viel fürs Klima, wenn sie nicht zugleich dafür sorgt, dass Verbrenner, etwa mit E-Fuels, auch klimaneutral gefahren werden können.

Hinzu kommen Widersprüche. Über Monate drehten sich viele EU-Debatten um die richtigen Antworten auf den Inflation Reduction Act, den milliardenschweren grünen Umbauplan für die US-Wirtschaft. Protektionismus hielt die EU den USA vor, verhandelte intensiv darum, dass Steuergutschriften auch europäischen E-Autos auf dem US-Markt zugute kommen. Und was steht nun in den jüngsten EU-Gesetzentwürfen? Besondere Prüfungen bei Ausschreibungen, wie groß der Marktanteil von Firmen aus Drittländern ist, ergänzt um staatliche Subventionierung heimischer Anbieter. Die EU will also selbst mehr Protektionismus.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyn hat zudem einen bemerkenswerten Hinweis auf den Umgang der EU mit ihren Zielen gegeben. Beispielsweise mit dem Vorhaben, bis 2030 drei Prozent der Wirtschaftskraft in Forschung und Entwicklung zu stecken. Seit 2002 gebe es diesen Vorsatz. Man komme dem Ziel tatsächlich langsam immer näher. Aber die anderen auf der Welt seien schneller. Und so bedeute dies, dass der Anteil der EU an den weltweiten Forschungs- und Entwicklungsausgaben in den letzten beiden Jahrzehnten nicht gestiegen, sondern von 41 auf 31 Prozent gesunken sei.

Mag die Beschwörung der Kommission auch zutreffen, dass man trotz der vielen Pläne und Zielvorgaben nicht von einer Planwirtschaft sprechen könne, eine klare Linie ist es auch nicht. Dazu gibt es zwischen den Punkten zu viele Lücken. Und das ergibt - nicht nur mathematisch - keine Linie.

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