Impfstoffentwicklung und Wirtschaftspolitik Europas Chance, Europas Pflicht

Analyse | Brüssel · Die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bringt die europäische Karte ins Spiel und sieht im Kampf gegen die Pandemie die Chance für mehr Gemeinsamkeit der Mitgliedsstaaten. Es scheint, als hätten alle aus der ersten Phase der Krise gelernt.

 Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, spricht in einer Pressekonferenz in Brüssel, die per Videoschaltung erfolgt.

Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, spricht in einer Pressekonferenz in Brüssel, die per Videoschaltung erfolgt.

Foto: AFP/VIRGINIA MAYO

Peter Piot, der Berater Ursula von der Leyens in Corona-Fragen, brachte es bei der Pressekonferenz der EU-Kommissionspräsidentin auf den Punkt. „Anders als im Frühjahr blieb kein EU-Land von der zweiten Welle verschont.“ Man mag kleinkariert einwenden, dass Estland und Finnland den kritischen Schwellenwert von 50 Neufällen innerhalb einer Woche pro 100.000 Einwohner noch nicht erreicht haben. Aber auch dort dürfte es nur eine Frage der Zeit sein.

Das Coronavirus hat Europa fest im Griff, dramatischer und vollständiger als zu Beginn der Pandemie. Innerhalb von nur einer Woche haben sich 1,1 Millionen der rund 450 Millionen EU-Bewohner mit dem Erreger angesteckt. Es dürften schnell deutlich mehr werden, wenn sich das Virus weiter exponentiell ausbreitet. Für von der Leyen und ihren Berater ist deshalb klar, dass die bisherigen Präventivmaßnahmen wie Maskenpflicht, Hygieneregeln und Kontaktbeschränkungen europaweit ausgedehnt werden müssen, um die Pandemie einzudämmen.

Am Donnerstag wollen die EU-Staats- und Regierungschefs bei einer Videokonferenz ihre jeweils nationalen Strategien aufeinander abstimmen. Dabei wollen sie so viel Europa wie irgend möglich behalten. Die wichtigsten Ziele hat von der Leyen schon jetzt ausgegeben. Reisen von Ehepaaren und Verwandten sowie Geschäftsleuten sollen nach wie vor quer durch Europa unbeschränkt möglich sein – trotz der diversen Reisewarnungen. Die Wirtschaftskraft will die EU-Kommissionspräsidentin erhalten und die Auszahlung der Hilfen beschleunigen. Die Corona-Warn-App soll bald in 23 EU-Ländern funktionieren, allein im November sollen 18 Mitgliedsstaaaten hinzukommen. Und bei der Entwicklung von Impfstoffen seien die europäischen Pharmakonzerne führend, drei Substanzen stünden vor der Zulassung, drei befänden sich in der letzten Stufe der klinischen Erprobung. Aber immer, so der Mediziner Piot, gehe Sicherheit vor Schnelligkeit. „Das ist gar keine Frage“, ergänzte die Kommissionspräsidentin.

Man muss der ehrgeizigen Deutschen zugute halten, dass sie eine klare Botschaft auf EU-Ebene verkündet. Das Virus, so von der Leyen, erfordere die gemeinsame Anstrengung aller Europäer und ihrer Regierungen. Dazu würden die Wissenschaft, die Wirtschaft, die Politik und vor allem die Menschen benötigt. Und: Die europäischen Werte wie Reisefreiheit, unbehinderter Güterverkehr und größtmögliche Teilhabe an den Leistungen der Medizin bleiben ganz oben auf der Agenda.

Die EU hat tatsächlich die Chance, sich angesichts der Dramatik der zweiten Welle von ihrer besten Seite zu zeigen. Deutschland hat bereits zugesagt, Patienten aus den stärker betroffenen Niederlanden aufzunehmen. Sollten die Kapazitäten an Intensivbetten in Italien, Spanien und Polen nicht ausreichen, würden die besser bestückten Länder einspringen. Das soll europäische koordiniert werden, ist aber bisher nur auf Zuruf möglich. Die gemeinsame Not lässt die Europäer eben zusammenrücken. Und auch wenn für fast alle EU-Länder gegenseitige Reisewarnungen bestehen, so sollten doch grundsätzlich die Möglichkeit des Grenzübertritts weiterhin bestehen. Die Offenheit der Grenzen, der Export wichtiger medizinischer Güter soll gewährleistet bleiben. Es scheint, als hätten alle aus der ersten Phase der Krise gelernt.

Richtig ist aber auch, dass noch keines der Länder bislang ein wirksames Mittel gegen den sprunghaften Anstieg der Zahl der Neuinfektionen vorgelegt hat. Frankreich und Spanien, in Teilen auch Italien haben Ausgangssperren verhängt. Doch die tägliche Anzahl der Corona-Fälle hat sich kaum abgeschwächt. Und die Sorge, dass die Gesundheitsversorgung in Europa zusammenbricht, ist längst nicht gebannt. Die Auslastung der Intensivstationen ist bei einem Drittel des Stands vom Frühjahr. Doch angesichts der jüngsten Dynamik dürfte die Kapazitätsgrenze in spätestens ein, zwei Monaten erreicht sein.

Von der Leyen hat zu Recht zwei Feinde in diesem fast verzweifelten Kampf ausgemacht – das Coronavirus selbst und die Müdigkeit der Menschen, mit ständig neuen Einschränkungen leben zu müssen. Man dürfe trotzdem nicht locker lassen, findet die oberste europäische Beamtin. Das Vertrauen in Europa werden die Menschen aber nur behalten, wenn es den Regierungen vereint gelingt, die Ausbreitung einzudämmen, ohne die Wirtschaft vollends abzuwürgen.

Der belgische Arzt und Mikrobiologe Peter Piot, der 71-jährige Leiter der London School of Hygiene and Tropical Medicine (Institut für Hygiene und tropische Medizin), hat vier Optionen für die nahe Zukunft auf dem alten Kontinent beschrieben: ein Wunder, dass das Virus an Wucht und Gefährlichkeit verliert (eher unwahrscheinlich), die mögliche Herdenimmunität (Millionen von zusätzlichen Toten), einen langen Lockdown (Zusammenbruch der Wirtschaft) und die baldige Verfügbarkeit von Impfstoffen. Auf die letzte Möglichkeit setzt der Mediziner die größten Hoffnungen. Tatsächlich befinden sich elf Impfseren in der klinischen Phase. Aber selbst darauf dürfen die Europäer nicht uneingeschränkt setzen. Der Impfstoff ist nur eines der Mittel, die Infektionen wieder einzudämmen.

Europa muss bis dahin Rückendeckung geben und eine Führungsrolle bei der medizinischen Begleitung und der Verteilung der Lasten annehmen. 750 Milliarden Euro stehen für die betroffenen Länder bereit, 100 Milliarden wurden bereits ausgezahlt – an Spanien, Italien und Polen. Der Geldregen allein wird diese gebeutelten Staaten nicht retten. Das sind eher intelligente, grenzüberschreitende Konzepte, die Infektionscluster zu identifizieren und gezielt zu bekämpfen. Dazu müssen die Europäer Daten austauschen, ihre Erkenntnisse teilen und vor allem solidarisch sein. „Kein Land kann die Krise allein meistern“, meint Piot. Da hat er recht.

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