Die wirtschaftlichen Folgen des Brexit Kommt eine neue Weltwirtschaftskrise?

Frankfurt · Der Börsenabsturz um zehn Prozent nach der Brexit-Entscheidung weckt Erinnerungen an 2008. Die Notenbanken sind alarmiert. Die Folgen für Banken und Anleger.

Die Londoner Börse: Insbesondere der Kurs des Pfund brach am Freitag ein.

Die Londoner Börse: Insbesondere der Kurs des Pfund brach am Freitag ein.

Foto: afp

An den Finanzmärkten wurden böse Erinnerungen wach: Die Börsenkurse gingen am Freitag weltweit auf Talfahrt. Der Leitindex Dax brach zeitweise um fast 1000 auf 9233 Punkte ein und damit stärker als 2008, als die Pleite der US-Bank Lehman eine Weltwirtschaftskrise auslöste. Der Aktiencrash vernichtete am Freitag laut DZ Bank weltweit fünf Billionen Dollar Börsenwert. Börsenhändler sprachen von einem "schwarzen Freitag". Einer sagte: "Keiner hat erwartet, dass die Briten wirklich austreten. Jetzt gibt es immensen Absicherungsbedarf."

Entsprechend groß war der Andrang auf vermeintlich sichere Häfen. Gold, Schweizer Franken und deutsche Bundesanleihen waren gefragt wie nie. Der Goldpreis sprang zeitweise auf 1358 Dollar je Feinunze, Höchststand seit zweieinhalb Jahren. Briten googelten im Netz sechsmal häufiger als sonst nach "Gold kaufen". Der Franken schnellte so hoch, dass die Schweizer Notenbank gegensteuerte und massiv Franken verkaufte. Die Rendite der Bundesanleihen fiel auf minus 0,2 Prozent: Statt Zinsen vom Staat zu bekommen, müssen Anleger ihm nun 20 Cent je 100 Euro als Gebühr dafür zahlen, dass sie ihm Geld leihen dürfen. Verkehrte Welt.

Fürs Erste setzen die Ökonomen darauf, dass sich die Lage nach unruhigen Tagen wieder entspannt. "Bis Donnerstag hatte Europa ein Problem, jetzt ist erst mal Panik", sagte Holger Sandte, Chefvolkswirt der Nordea Bank. "Die Finanzmärkte werden einige Tage brauchen, um den Schock zu verarbeiten." Von der Lehman-Pleite am 15. September 2008 wurde die Welt völlig überrascht. Das ist heute anders: Die Börsianer hatten sich in den vergangenen Tagen zwar auf eine Mehrheit für den Verbleib eingestellt. Doch als Szenario steht der Brexit seit Langem im Raum. Entsprechend sind die Banken vorbereitet.

2008 fror nach der Lehman-Pleite in Kürze der wichtige Inter-Banken-Handel ein. Keine Bank wollte einer anderen Bank mehr Geld leihen, geschweige denn einem Unternehmen. Und es dauerte damals, bis die Notenbanken die Geldschleusen öffneten, um die Starre aufzulösen. Das ist jetzt anders. Banken hatten Notfallpläne für den B-Day vorbereitet. Auch die Notenbanken stehen parat: Die Europäische Zentralbank (EZB) bietet frisches Geld zum Nulltarif — und über 500 Geldinstitute griffen gestern zu. Sie sicherten sich für 400 Milliarden Euro Kredite, die sie erst 2020 zurückzuzahlen müssen, zinslos versteht sich. "Die EZB steht bereit, zusätzliche Liquidität in Euro und Fremdwährungen bereitzustellen", teilte diese mit. Die Bank of England hatte die britischen Geschäftsbanken mit Extra-Bargeld versorgt, um einer Panik unter britischen Sparern vorzubeugen.

Der Absturz der Aktien kann auch eine Chance sein. Anleger fragen sich jetzt: Soll ich irgendwo einsteigen? "Qualitätsaktien, Werte mit stabilen Gewinnen wie Haushaltsgüter und Nahrungsmittel, Aktien, die von anhaltenden Niedrigzinsen profitieren wie deutsche Immobilienwerte", empfiehlt Aktienstratege Ralf Zimmermann vom Bankhaus Lampe. Aus Sicht von Zimmermann sind die größten Verlierer Banken, die durch die Unsicherheit und die Minizinsen belastet sind. Auf die Frage, wo der Dax in zwei bis drei Monaten stehen werde, sagt Zimmermann: "Die Volatilität wird hoch sein. Das untere Ende meiner erwarteten Dax-Spanne ist bei 8200, das droht im zweiten Halbjahr getestet zu werden." Das wären gegenüber dem Kurssturz noch mal mehr als zehn Prozent weniger.

Das britische Pfund fiel am Freitag um elf Prozent auf 1,32 Dollar. Der Verlust war noch stärker als 1992: Damals hatten Investoren wie George Soros so massiv gegen das aus ihrer Sicht überbewertete Pfund gewettet, dass die Bank of England nicht gegenhalten konnte. Am 16. September traten die Briten aus dem Europäischen Währungssystem, Vorläufer des Euro, aus; die Börsen erlebten einen "schwarzen Mittwoch". Seither hat Soros den Ruf weg als Mann, der die Bank of England knackte. Auch den gestrigen schwarzen Freitag hatte Soros vorhergesagt, und seine Landsleute ermahnt: "Ein Brexit-Crash macht euch alle ärmer, seid gewarnt", hatte er vor ein paar Tagen in der britischen Zeitung "The Guardian" geschrieben. Nur einige Spekulanten würden "sehr reich werden", die Masse der Bürger aber viel Geld verliert.

Die Abwertung des Pfunds macht für die Briten Importe von Autos, Maschinen und Rohstoffen teurer. Ausländische Unternehmen dürften sich mit Investitionen zurückhalten. Banken könnten überlegen, den Finanzplatz London zu verlassen, weil sie keinen Zugang mehr zum EU-Binnenmarkt haben. Die Deutsche Bank überlegt bereits, Bereiche wie den Devisenhandel von London nach Frankfurt zu verlagern. An der Fusion der Börsen London und Frankfurt soll zwar nicht gerüttelt werden, aber schon werden Rufe laut, die Zentrale doch nicht in London anzusiedeln.

Das britische Finanzministerium hatte gewarnt: Ein Brexit könnte eine halbe Million Stellen vernichten und das Durchschnittsgehalt für jeden Briten um 800 Pfund jährlich senken. Vergeblich. Ifo-Chef Clemens Fuest: "Die Entscheidung der Briten für den Brexit ist eine Niederlage der Vernunft."

Großbritannien ist mit einem jährlichen Exportvolumen von 90 Milliarden Euro Deutschlands drittgrößter Absatzmarkt weltweit. Durch die drohende Pfund-Abwertung gegenüber dem Euro fürchten die Außenhändler Absatzeinbrüche. "Unsere Produkte könnten über Nacht um bis zu 25 Prozent teurer werden", sagte Anton Börner, Chef des Außenhandelsverbandes BGA. "Das ist wie ein Blitz aus heiterem Himmel." Besonders betroffen davon sind nach Angaben des Industrieverbandes BDI die Branchen Auto, Energie, Telekommunikation, Elektronik und Metall. Auch Marijn Dekkers, Präsident des Verbands der chemischen Industrie, warnt: "Weniger Wirtschaftswachstum in den EU-Staaten und ein schwächeres Exportgeschäft werden die Konsequenzen sein." Da auch Geschäfte anderer EU-Staaten in Großbritannien leiden, dürfte ebenso deren Nachfrage zurückgehen. "Der Brexit bedeutet für alle Wohlstands- und Arbeitsplatzverluste", sagte Börner. Besorgt sind insbesondere die deutschen Unternehmen, die in Großbritannien stark engagiert sind wie Siemens, Bahn, BMW und RWE. Sie beschäftigen dort 400.000 Menschen. Siemens fürchtet, dass der Brexit Auswirkungen auf künftige Investitionsentscheidungen haben könnte.

Morgenluft witterte dagegen die Start-up-Szene: Viele Jungunternehmer würden jetzt von London nach Berlin umziehen, denn diese brauchten einen offenen Binnenmarkt, erwartet der Bundesverband Deutsche Startups. "Die eigentliche Rechnung zahlen ab heute die britischen Start-ups", erklärt der Verband. Zu den weiteren Gewinnern dürfte auch der Finanzplatz Frankfurt zählen. Banken, die sich aus London zurückziehen, weil sie hier keinen Zugang zum Binnenmarkt haben, könnten an den Main gehen. Der Lobbyverband "Frankfurt Main Finance" erwartet binnen fünf Jahren 10.000 zusätzliche Arbeitsplätze.

Kurzfristig fast nichts. Reisen, die gebucht sind, finden statt, und deutsche Touristen können auch weiter mit ihrem Personalausweis in das Vereinigte Königreich einreisen. "Die Briten waren bei den Grenzkontrollen ja nie Teil des Schengener Abkommens, man musste ohnehin seinen Ausweis bei der Einreise vorzeigen", sagte der Sprecher des Deutschen Reiseverbandes. Auch die Reisepreise blieben vorerst stabil. Wenn der Brexit vollzogen wird, drohen jedoch Nachteile für Touristen: Ist Großbritannien nicht mehr Teil der EU, gelten auch die Entschädigungsregelungen bei Flugriesen nicht mehr. Bei Verspätungen und Annullierungen wären Reisende nach UK dann nicht mehr durch die EU-Fluggastrechte-Verordnung geschützt. Wer dann mit British Airways, Easyjet oder Ryanair reist, hat bei einer Annullierung im Zweifel schlechte Karten. Auch die Ticketpreise könnten steigen, wenn die Gebühren-Vorteile innerhalb der EU für sie nicht mehr gelten.

Die Europäische Union hatte unlängst beschlossen, die Roaming-Gebühren für das Telefonieren im EU-Ausland 2017 abzuschaffen. Nach dem Brexit ist Großbritannien nicht mehr Teil dieser Vereinbarung, Telefonieren dort könnte teuer werden.

(anh)
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