EU-Präsidentin Merkel?

In Brüssel gilt es längst als offenes Geheimnis, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Karriere als Präsidentin der Europäischen Union krönen könnte – allerdings mit mehr Kompetenzen.

Brüssel. Schon einmal war Angela Merkel die "Königin" Europas: Als Ratspräsidentin rettete sie 2007 die Kernpunkte der bei Volksabstimmungen gescheiterten EU-Verfassung. Die Kanzlerin beendete damit unter ihrem sechsmonatigen Brüsseler Ratsvorsitz die lähmende Dauerkrise um eine institutionelle Generalüberholung der Gemeinschaft.

Nun will sie das Haus Europa wieder mächtig umbauen – als Lehre aus dem Sturm der Schuldenkrise, der die Fundamente ins Wanken bringt. Ihr erklärtes Ziel: eine politische Union. Erste Beschlüsse sollen beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs am 18./19. Oktober fallen. Das ist ein Projekt für die Geschichtsbücher. Es geht darum, den Geburtsfehler des Euro auszumerzen. Dessen Gründungsväter schufen eine Einheitswährung ohne gemeinsame Fiskal- und Wirtschaftspolitik. Dass dies nicht funktioniert, ist mittlerweile klar. Doch die Nationalstaaten scheuten zu Zeiten von Merkels Förderer Helmut Kohl davor zurück, so viel Macht an Europa abzugeben. Nun sollen sie es tun.

Die Kanzlerin baut damit nicht nur an einer stabilen Zukunft für die EU, sondern auch an Optionen für die eigene Karriere. Der Posten einer mächtigen "EU-Chefin" in einer gestärkten staatsähnlichen Union dürfte sie durchaus interessieren. Er schließe nicht aus, dass sich im Laufe des Jahrzehnts für Merkel die Frage nach einer hauptberuflichen Tätigkeit in Brüssel stelle, sagte der deutsche Kommissar Günther Oettinger jüngst in einem Interview mit der "Zeit". Er sprach damit als erster offen aus, was viele in Brüssel hinter verschlossenen Türen kolportieren. Ein deutscher EU-Spitzenbeamter etwa ist sich sicher, dass Merkel ihren einstigen Europaberater Uwe Corsepius auch deshalb als Generalsekretär des Rates in Brüssel installiert hat, um das Terrain für einen möglichen Wechsel an Europas Spitze zu bereiten.

Belege für solcherlei Thesen gibt es freilich nicht. Doch der sich abzeichnende Zeitplan für das neue Europa kommt Merkel durchaus entgegen. Die CDU-Chefin kann bei der Bundestagswahl getrost um ihren Machterhalt in Berlin kämpfen, ohne sich den späteren Weg nach Brüssel zu verbauen. Erst mal kleine Reformschritte unter dem geltenden EU-Vertrag, so heißt die Devise.

Der bietet übrigens viele Möglichkeiten: So schlägt die Parlaments-Arbeitsgruppe für eine EU-Reform vor, das Amt des Währungskommissars und des Eurogruppenchefs zu verschmelzen und mit erweiterten Durchgriffsrechten zu stärken. So solle ein "europäischer Finanzminister" mit einem "besonderen Status" geschaffen werden, heißt es in dem Papier, das unserer Zeitung vorliegt. Frühestens nach den Europawahlen 2014 dürfte dann der große Wurf angegangen werden – mit einem Konvent und einer Regierungskonferenz, wie es bei Vertragsänderungen mit weitreichenden Souveränitätsübertragungen nach Brüssel üblich ist.

Günther Oettinger beschrieb seine Vision für ein Europa 2020 jüngst so: "Die Kommission muss zu einer echten Regierung weiterentwickelt werden, das Europäische Parlament muss gestärkt und der Europäische Rat eine vollwertige zweite Kammer werden. Für einige große Fragen braucht die EU vollständige Kompetenzen. Das gilt für die Außen- und Verteidigungspolitik und für die Infrastruktur. Die Währungsunion muss durch eine gemeinsame Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik ergänzt werden."

Als möglich gilt auch, dass das Amt des ständigen Ratspräsidenten mit dem des Kommissionschefs verschmolzen wird: Heraus kommen könnte ein wirklich machtvoller "Chef" der EU – eventuell sogar direkt gewählt vom Volk. Als mögliche Deadline für den Umbau nennen Insider das Jahr 2017, wenn der zwischenstaatliche Fiskalpakt für verpflichtende Schuldenbremsen in die regulären EU-Verträge überführt werden soll. Das wäre das Jahr der übernächsten regulären Bundestagswahl. Ein idealer Zeitpunkt also für Angela Merkel, so sie denn 2013 eine weitere Amtsperiode in Berlin an der Macht bleibt. Sollte sie abgewählt werden, könnte Merkel eine Notfall-Option ziehen.

Bei der Europawahl im Juni 2014 wollen die Parteien erstmals mit europäischen Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionschefs ins Rennen gehen, um die stetig sinkende Wahlbeteiligung mit Köpfen und Kontroversen zu stärken: Bei den Sozialisten gilt EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) als Favorit.

Die Konservativen denken über Polens Regierungschef Donald Tusk nach. So würde die Wahl zur indirekten Abstimmung über die Frage, wer Europas "Regierungschef" werden und die Brüsseler Exekutive führen soll. Denn die stärkste Partei stellte am Ende den Kommissionspräsidenten. Bisher wird der von den Staats- und Regierungschefs ausgekungelt.

Von einer Kandidatin wie Merkel träumen im Stillen einige, auch wenn das wegen der kurzen Aufeinanderfolge der Urnengänge wenig wahrscheinlich ist. Doch fest steht: Merkel denkt als Physikerin der Macht in Optionen. Und Europa sichert ihr eher einen Platz in den Geschichtsbüchern als deutsche Innenpolitik. Diese Lektion hat die Kanzlerin in der Schuldenkrise gelernt.

Internet Angela Merkel als Covergirl in der europäischen Presse: www.rp-online.de/politik

(RP)
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