Neu-Delhi/Düsseldorf Erneute Vergewaltigung empört Inder

Neu-Delhi/Düsseldorf · Zum Jahresbeginn erlag eine Schülerin in der Nähe von Kalkutta ihren schweren Verletzungen. Es gibt erste Festnahmen.

Neu-Delhi/Düsseldorf: Erneute Vergewaltigung empört Inder
Foto: Piyal Adhikary

Es ist eine Chronik des Grauens und eine Dokumentation von Mut und Verzweiflung einer jungen Frau. Ihr Schicksal weckt Anteilnahme über die Grenzen Indiens hinaus. Es macht betroffen. Es wirft Fragen auf, die in der Vergangenheit bereits häufig gestellt wurden, deren Beantwortung bisher aber nie zufriedenstellend ausfiel. Am Ende bleibt die trockene Statistik: Schon wieder ist eine junge Inderin nach einer Vergewaltigung gestorben.

Der Tatort ist die Kleinstadt Madhyamgram, nicht weit von Kalkutta im Osten des Landes. Sechs Männer fangen die Schülerin am 26. Oktober ab und vergewaltigen sie nacheinander. Das Mädchen nimmt allen Mut zusammen, geht zur Polizei und zeigt die Täter an. Doch schon am folgenden Tag wird sie von ihnen erneut vergewaltigt, als sie von der Polizei heimkehren will. Und damit ist der Leidensweg des Mädchens keineswegs erschöpft. Einen Tag vor Heiligabend wird die Wohnung — sie ist allein zu Hause — angeblich von zwei Bekannten der Vergewaltiger angezündet.

Am Abend des 1. Januar stirbt die Schülerin im Krankenhaus an ihren schweren Verletzungen. Sie war 16 Jahre alt geworden, andere Quellen berichten, sie sei erst zwölf Jahre alt gewesen und nach der Vergewaltigung schwanger geworden. Hunderte Menschen gehen in Kalkutta auf die Straßen. Sie halten Kerzen in den Händen, fordern die Polizei auf, endlich gegen die Vergewaltigungen vorzugehen. Der örtliche Polizeichef Rajiv Kunar erklärt gestern, es seien die ersten Verdächtigten in Haft genommen worden.

Das Verbrechen wühlt Indien auf. Es erinnert an die Gruppenvergewaltigung einer jungen Studentin in der Hauptstadt Neu-Delhi vor einem Jahr. Sie wurde zum Symbol für das Leid, das Millionen indischer Frauen widerfährt. Denn Gewalt ist Alltag in Indien. Alle 20 Minuten wird eine Inderin vergewaltigt — und das sind nur die offiziellen Zahlen. Warum hat ausgerechnet dieser Fall die Seele der Nation berührt? Es kam vieles zusammen: Es geschah in Süd-Delhi, das als relativ sicher und modern gilt. Es traf eine Angehörige der aufstrebenden Mittelschicht. Und die Tat war von enormer Brutalität gekennzeichnet.

Das Mädchen aus Madhyamgram, dessen wirklicher Name aus rechtlichen Gründen nicht genannt wird, hatte eigentlich alles richtig gemacht. Es war noch nicht spät, sie war anständig gekleidet und in Begleitung eines Freundes. Doch auch all das schützte sie nicht. So entlarvte die Tat die Lügen der indischen Gesellschaft, die die Schuld immer den Frauen zuschiebt.

"Der Mann zählt alles, die Frau nichts" — dieses Denken durchzieht die ganze Gesellschaft. Und doch: Indien hat sich verändert. Über Jahrzehnte hat das Land weggeschaut und das Thema Gewalt gegen Frauen unter den Teppich gekehrt. Doch nun lässt sich die Debatte nicht mehr ersticken. Vor allem in den Städten brechen immer mehr Frauen das Schweigen. Der Gründer des linken Magazins "Tehelka", Tarun Tejpal, sitzt im Gefängnis, weil er eine angestellte Journalistin sexuell genötigt haben soll. Auch ein Richter geriet wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz unter Druck.

Die Zahl der Anzeigen wegen Vergewaltigung hat sich in Delhi bis Ende Oktober 2013 gegenüber dem Vorjahr auf 1330 verdoppelt. Die Dunkelziffer liegt wohl weit höher. Doch in nur einem Fall kam es zu einer Verurteilung. Und die Vergewaltigungen gehen unvermindert weiter. Man könnte eine ganze Zeitung füllen, wollte man nur die Fälle einer Woche erzählen. Was erschüttert, ist vor allem die Brutalität. Gruppenvergewaltigungen, die eigentlich charakteristisch für Kriege gelten, sind gang und gäbe.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort