Analyse Einsam macht krank

Düsseldorf · Großbritannien hat eine Ministerin gegen Einsamkeit ernannt. Das ist richtig, denn das moderne Leben isoliert zunehmend. Auch die deutsche Politik sollte dem Thema mehr Beachtung schenken.

Es war eine wegweisende Entscheidung, die Theresa May Anfang vergangener Woche kundtat. Die britische Premierministerin sprach ausnahmsweise mal nicht über den EU-Austritt ihres Landes, sondern über das Thema Einsamkeit. Die sei die traurige Realität des modernen Lebens, sagte May und gab bekannt, dass die für Sport und Zivilgesellschaft zuständige Staatssekretärin Tracey Crouch neue Ministerin gegen Einsamkeit werde. Die 42-Jährige sagte, sie sei stolz, ein Problem anzugehen, das "eine generationenübergreifende Herausforderung" darstelle. Damit übertrieb Crouch keineswegs.

Nach Angaben des Roten Kreuzes sagen mehr als neun der insgesamt 66 Millionen Briten, dass sie sich immer oder häufig einsam fühlen. In Deutschland ist die Lage ähnlich. Das Hamburger Marktforschungsinstitut Splendid Research ermittelte im Frühjahr 2017 in einer repräsentativen Online-Befragung, dass sich zwölf Prozent der Deutschen häufig oder ständig einsam fühlen. Weitere 32 Prozent verspüren zumindest manchmal Einsamkeit.

Jeder von uns wird sich zeitweise schon allein gefühlt haben. Das ist normal und gehört zur Persönlichkeitsentwicklung dazu. Man muss unterscheiden: Alleinsein ist nicht gleichbedeutend mit Einsamsein. Ein Mensch kann allein sein, muss sich aber nicht einsam fühlen. Oder er kann trotz zahlreicher sozialer Kontakte in Einsamkeit versinken. "Für das Alleinsein kann ich mich entscheiden, Einsamkeit ist nichts Freiwilliges", sagt Maike Luhmann, Psychologie-Professorin an der Ruhr-Universität Bochum, im Interview mit der "FAZ". Einsamkeit ist also mehr als ein Gefühl. Wie eine Krankheit kann sie chronisch werden und nicht nur die ältere Generation heimsuchen.

Durch Einsamkeit wächst die Gefahr, an Alzheimer, Fettleibigkeit, Diabetes, Bluthochdruck, Depressionen oder gar Krebs zu erkranken. Das haben Studien ergeben. Einsame Menschen bewegen sich weniger, sind antriebsloser, geben nicht so sehr auf sich acht. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sagte der "Bild"-Zeitung: "Die Einsamkeit in der Lebensphase über 60 erhöht die Sterblichkeit so sehr wie starkes Rauchen." Gleichzeitig wirkt Einsamkeit auf die Psyche. Wer sich isoliert fühlt, entwickelt Selbstzweifel. Das Lächeln eines anderen Menschen wird als Auslachen interpretiert, ein neutraler Blick als Desinteresse ausgelegt. "Menschen, die in dieses Denkmuster geraten, ziehen sich häufig entweder zurück oder reagieren aggressiv. Leider führt beides dazu, dass wir im Ergebnis tatsächlich weniger gute soziale Kontakte haben", sagt Luhmann.

Doch die Gründe für Einsamkeit sind nicht leicht zu ermitteln. Es ist kein neues Phänomen, und Einsamkeit wird von Mensch zu Mensch unterschiedlich stark wahrgenommen. Extrovertierte Menschen, die von Natur aus geselliger sind, haben meist seltener mit Einsamkeit zu kämpfen als introvertierte. Es gibt aber Indizien, dass das moderne Leben Einsamkeit fördern kann. So steigt der Anteil an Single-Haushalten, es gibt immer weniger Großfamilien. Die Menschen werden älter, wobei Männer im Schnitt sechs Jahre früher sterben als Frauen. Ganze Orte vergreisen, weil die Jugendlichen wegziehen. Die sozialen Netzwerke sind Fluch und Segen zugleich. Sie verbinden Menschen überall auf der Welt. Sie tun dies aber nicht auf jene körperliche Art, die geeigneter wäre, der Einsamkeit entgegenzuwirken oder sie gar nicht erst entstehen zu lassen. Das US-amerikanische Filmdrama "Zeitgeist" (2014) bringt es in seinem Untertitel auf den Punkt: "Von digitaler Nähe und analoger Entfremdung".

Aber wie können wir Einsamkeit konkret bekämpfen? Um die Frage zu beantworten, lohnt ein Blick auf das Engagement der am 16. Juni 2016 ermordeten britischen Parlamentsabgeordneten Jo Cox. Denn sie war es, die dem Kampf gegen Einsamkeit in Großbritannien eine Lobby verschaffte - und damit maßgeblich dazu beitrug, dass Premierministerin May das Thema nun in Ministerhände gelegt hat.

Nachdem Cox im Mai 2015 ins britische Parlament gewählt worden war, begann sie mit dem Aufbau einer Kommission, die sich mit der Vereinsamung der Gesellschaft befassen sollte. Kein runder Tisch, an dem nur diskutiert wird, sollte es werden. Cox wollte ein Werkzeug entwickeln, das in Zusammenarbeit mit Wohlfahrtsorganisationen konkrete Maßnahmen für die Politik vorschlägt. Cox' Ambitionen wurden im Juni 2016 allerdings auf brutale Art zunichtegemacht: Ein Rechtsradikaler schoss die damals 41-jährige Labour-Abgeordnete vor einer Bücherei in Nordengland nieder und stach danach mit einem Messer auf sie ein. Cox starb drei Stunden später im Krankenhaus. Ihre Idee aber lebte weiter. Mittlerweile gibt es - auch ihr zu Ehren - die Jo Cox Loneliness Commission. Politiker und derzeit 13 Wohlfahrtsorganisationen suchen nach jenen konkreten Maßnahmen gegen Einsamkeit, die Cox zu finden gehofft hatte.

Im zurückliegenden Jahr wählte die Kommission jeden Monat einen anderen Schwerpunkt des Themas: So ging es beispielsweise ausschließlich um die Einsamkeit bei Männern. Im Dezember veröffentlichte die Kommission ihren ersten Bericht, in dem sie neben einem mit dem Thema beauftragten Minister etwa mehr Studien und einen Innovationsfonds fordert.

Für die Bundesregierung wäre es ein Leichtes, es den Briten gleichzutun. Und man möchte der Bundesregierung zurufen: Nun macht schon! Unser Gesundheitssystem ist hervorragend. Doch es ist weithin auf physische Leiden ausgelegt. Indirekte Gesundheitsrisiken wie Einsamkeit oder auch Stress werden immer noch zu spärlich beleuchtet. Das muss sich ändern. Brexit hin oder her: Dieser britische Weg ist nachahmenswert.

(jaco)
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