Raleigh Ein US-Prediger kämpft wie Martin Luther

Raleigh · Jeden Montag protestiert eine Bürgerbewegung in North Carolina gegen die wachsende soziale Kluft. Ein Pastor ist ihr Aushängeschild.

William J. Barber stützt sich auf einen Stock. Beim Gehen zieht er das linke Bein nach und beugt sich nach vorn, als müsse er eine schwere Last ziehen. Sein Gesicht verkrampft sich manchmal vor Schmerzen. Der massige Mann leidet an einer rheumatischen Erkrankung, es kostet ihn Überwindung, weite Strecken zu laufen. Doch genau das tut er jetzt, angetan mit roter Priesterstola, in der prallen Sonne begleitet von Pfarrern, von Ärzten in weißen Kitteln und einigen Hundert Demonstranten.

Aus den Lautsprechern dröhnt eine Arie aus "Ragtime", wahrscheinlich gibt es das nur in Amerika: Ein Protestmarsch, der sich in Bewegung setzt zu Klängen aus einem Musical. "Martin Luther musste seine Thesen ja auch an eine Tür nageln", ruft Barber, Reverend der Greenleaf Christian Church der Kleinstadt Goldsboro. "Und da sie mich nicht hereinlassen, bleibt mir auch nichts anderes übrig." Irgendwann steht der Geistliche schweißgebadet vor den verschlossenen Türen des Bundesstaatenparlaments von Raleigh, North Carolina, faltet einen Papierbogen und klemmt ihn in den Messingtürgriff.

Der ehrenwerte Herr Gouverneur, steht in Barbers Brief, möge kraft seines Amtes rückgängig machen, was die Abgeordnetenkammer den Armen alles zumute: weniger Arbeitslosengeld, weniger Geld für staatliche Schulen, dafür Steuergeschenke an Reiche in Form einer pauschalen "flat tax", welche die progressive Einkommenssteuer ersetzt. "Wir sind wieder im vergoldeten Zeitalter", sagt der Gottesmann mit den Worten Mark Twains. Er meint das späte 19. Jahrhundert, als immer neue Fabriken aus dem Boden gestampft wurden, Industriemagnaten wie Andrew Carnegie, John Rockefeller und Cornelius Vanderbilt sagenhafte Vermögen anhäuften und zugleich in den Kleine-Leute-Vierteln der Städte die Not wuchs.

Dann geht es weiter zu einer steingrauen Villa im Schatten knorriger Bäume, dem Anwesen Pat McCrorys, des Gouverneurs. Der Prediger baut sich am Eingang auf, sein voller Bariton dröhnt über die Menge, die sich auf dem Platz vor ihm versammelt hat. "Hört her, Leute, wir dürfen nicht lange vor diesem Haus stehen, so sind die Regeln. Aber es gibt keine Regel, die uns verbietet, um das Haus herumzulaufen." Barber lächelt verschmitzt, dann lässt er ein Bibelmotiv folgen: "Also los, Leute, sieben Mal um die Mauern herum, so wie Joshua es in Jericho tat." Ein Saxofonist mit Rastalocken bläst die Melodie, eine kräftige Frauenstimme übertönt alle anderen, sieben Runden lang singt sie dasselbe Motiv: "Joshua fought the battle of Jericho, Jericho, Jericho ..."

Hinterher macht die Menge für 15, 20 Sekunden einen Höllenlärm, was Barber augenzwinkernd mit den Worten kommentiert, dass man doch aus der Bibel wisse, eine gewisse Dezibelstärke könne Mauern zum Einsturz bringen. Manches erinnert an eine afroamerikanische Kirche, nur dass die meisten hier helle Haut haben. Eine Mischung aus Occupy Wall Street, Nachbarschaftsparty und Gottesdienst. Zum Schluss gibt es Applaus für die stumm Protestierenden, die im Parlamentsgebäude ihre Spruchbänder entrollt hatten, sich von der Polizei in Handfesseln abführen ließen, wenn auch nur für ein paar Minuten, bevor sie draußen freikamen. Wegen Hausfriedensbruchs landen sie vor einem Richter, Barber feiert sie als Symbolfiguren zivilen Ungehorsams. Serena Sebring, Soziologieprofessorin an der North Carolina State University und dreifache Mutter, wirkt zu gleichen Teilen verlegen und stolz, als sie auf einmal im Rampenlicht steht.

Es war im April vergangenen Jahres, als der Pfarrer seinen ersten "Moral Monday" organisierte. Vorausgegangen war ein republikanischer Triumph an den Wahlurnen. Seit Herbst 2012 stellen die Republikaner sowohl den Gouverneur als auch die Mehrheit in beiden Parlamentskammern. Das gab es in North Carolina seit 1896 nicht mehr. Damit, fürchten die Demonstranten, droht der traditionell eher zentristisch regierte Bundesstaat auf eine Politik des sozialen Kahlschlags umzuschwenken. Daher der "moralische Montag".

Barber versteht den Begriff als Antwort auf seine konservativen Priesterkollegen in den Südstaaten. Angeführt von Jerry Falwell, dem Fernsehprediger, hatten sie die moralische Mehrheit für sich reklamiert, um sich abzugrenzen vom Amerika der Vietnamkriegsproteste und Blumenkinder, um Ronald Reagan den Weg ins Weiße Haus zu ebnen. Auch er sei ein evangelikaler Priester, entgegnet Barber trotzig. Er ist Doktor der Theologie, genauso wortgewaltig wie Falwell es war. Auch er hatte seine eigenen Radiosendungen, "Catch the Fire" und "Praise with a Purpose". Eben typisch amerikanisch. "Wenn Pastoren besessen sind von Themen wie Homosexualität und Abtreibung, während sie soziale Gerechtigkeit, Armut und Fairplay vergessen, dann reden sie dummes Zeug", wettert er.

Damit trifft der Reverend einen Nerv. An einem Montag im Februar versammelten sich Zehntausende vorm Domizil des Parlaments. Die Schätzungen reichten bis zu 80 000 Teilnehmern, Barber sprach von der Renaissance der Bürgerrechtsbewegung, vom größten Achtungszeichen seit 1965, als Anhänger Martin Luther Kings von Selma nach Montgomery, in die Hauptstadt Alabamas, marschierten. Heute hat er, bevor sie loslaufen, Ärzte und Hebammen auf eine Wiesenbühne gebeten. Es geht gegen die Weigerung North Carolinas, Zuschüsse aus Washington anzunehmen, damit die staatliche Armenfürsorge Medicaid auch auf jene ausgedehnt wird, die zwar in Lohn und Brot stehen, sich aber dennoch keine Krankenversicherung leisten können - "the working poor", die arbeitenden Armen, wie sie in Amerika heißen.

Susan Eder, eine Psychologin, spricht von den Zeitarbeitskräften, "die uns bei McDonald's bedienen, uns im Wal-Mart-Supermarkt am Eingang begrüßen, die tagsüber unsere Kinder betreuen". Sie alle fielen durchs Raster, nicht arm genug für medizinische Sozialhilfe, aber zu arm, um eine Police bezahlen zu können. Als Nächstes tritt eine Hebamme ans Rednerpult, es ist das Signal für Barber, ein rhetorisches Feuerwerk zu zünden. "Habt ihr gehört, sie sei nur eine Hebamme, hat sie gesagt. Aber die Wahrheit ist, es waren die Hebammen, die den Pharao bezwangen." Ohne Hebammen kein Moses, spinnt er den alttestamentarischen Faden fort, ohne Mose kein Sieg über den Herrscher Ägyptens.

Schließlich erzählt Leslie Boyd von Mike, ihrem verstorbenen Sohn. Der Junge kam mit einer angeborenen Fehlbildung zur Welt, seine Harnblase lag nach außen hin offen. Er wurde operiert, aber was er nicht wusste, war, dass damit sein Krebsrisiko stieg. Sämtliche Versicherungen lehnten ihn unter Verweis auf die Vorerkrankung als Kunden ab, und als Mike mit 30 zum ersten Mal gründlich untersucht wurde, hatte sich der Krebs bereits ausgebreitet. Mit 33 war er tot. Sie wolle nicht, dass Menschen nur des Geldes wegen nicht zum Arzt gingen, sagt Leslie Boyd. "In North Carolina haben fast 500 000 Menschen keine Krankenversicherung. Wissen Sie, was das bedeutet? Das sind pro Tag fünf bis acht Tote mehr."

(RP)
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