Istanbul Ein Skalpell, Clowns und weinende Mütter

Istanbul · In der Türkei gehört das Beschneidungsfest zum religiösen Leben wie in Deutschland Kommunion oder Konfirmation.

Gleich wird es blutig. Dann müssen die sieben Jungen im weißen Prinzenkostüm zu dem Mann mit dem Skalpell, einer nach dem anderen. Während ihre Eltern ihnen auf der Bühne die kleinen Hände halten, zieht ihnen der Beschneider die Hose herunter. Die Jungen schauen stolz und unsicher zugleich, als sich der glatzköpfige Mann mit dem tätowierten Unterarm über sie beugt. Endlich sind der Clown, der Sänger und der Keyboardspieler einmal still. Nur ein dicker Imam auf der Bühne spricht ein Gebet, Mütter weinen still. Es riecht nach Desinfektionsmittel.

Alltag für Levend Özkan, der in einem weißen Kittel an der Eingangstür des kreisrunden fensterlosen Saales steht. An einem Sonntag gegen 14 Uhr schaut er sich das Spektakel lächelnd an. Er ist hier aufgewachsen, zwischen dem Kitsch, den aufgeregten Familien und dem kleinen OP-Raum. "Für mich ist all das hier ganz normal", sagt er leise. "Noch vor meinem Medizinstudium habe ich hier alles Wichtige für meinen Beruf gelernt." Der Urologe hat noch etwas Zeit, bis er mit seiner Arbeit an der Reihe ist. Der 40-Jährige ist zuständig für den allerletzten Schritt, für die Naht. Der Mann oben auf der Bühne, der unter dem Neonlicht im Akkord Vorhäute wegschneidet, ist sein älterer Bruder Murat, ein Betriebswirt. Den beiden gehört das "Sünnet Sarayi", der "Beschneidungspalast" im Istanbuler Nobelviertel Levent. In der Branche sind die Brüder die Stars. Mit ihren Beschneidungspartys sind sie berühmt geworden. Jeden Tag werden bis zu 20 Jungen hier operiert.

Den Ruhm aufgebaut hat ihr Vater Kemal Özkan, der vor wenigen Monaten gestorben ist. Von dem dicken bärtigen Patriarchen wird jetzt deswegen vor jeder Beschneidungsparty auf einer großen Leinwand ein Video gezeigt, in dem er seine lange Karriere lobt. Tatsächlich ist Kemal Özkan der bekannteste "Sünnetci" (Beschneider) der Türkei - vielleicht war er auch der leidenschaftlichste. Kein anderer hat nach eigenen Angaben so viele Prominente behandelt wie er. Er beschnitt in Fußballstadien vor Tausenden Menschen, 2002 legte er in Afghanistan bei einer Beschneidungsfeier von türkischen Isaf-Soldaten Hand an. Über 115 000 Operationen will er durchgeführt haben, "von Anatolien über Deutschland bis nach Mexiko".

Sein Handwerk lernte Kemal Özkan in einem anatolischen Dorf, wo jeder, der etwas Geschick zeigte, ein Rasiermesser am Penis eines Kindes anlegen durfte. Dort war er eines Tages beim Zahnarzt, als ihm die Idee mit der Betäubung kam. Bis dahin wurde ohne Rücksicht auf Schmerzen geschnitten, erzählte der Meister gerne. Erst er habe den Schmerz der Kinder ein wenig gemildert. Und erst er habe, nachdem er davon geträumt habe, den Jungs einen "Beschneidungspalast" gebaut. Seine Vision wurde 1976 eröffnet und machte ihn schon zu Lebzeiten zur Legende.

Die "Sünnet Dügünü" - die "Beschneidungshochzeit" - ist in der Türkei Höhepunkt und gleichzeitig das Ende des Knabenlebens. Wer es sich leisten kann, feiert im ganz großen Stil. Deswegen pilgern Eltern aus der ganzen Welt zu den Özkans, um ihre Söhne für umgerechnet mehrere Hundert Euro bei den Brüdern behandeln zu lassen.

Die Feiern laufen immer nach demselben Programm ab. Sieben Kinder werden gemeinsam beschnitten. Die Familien nehmen ihre Plätze ein, Disco-Rhythmen wummern aus den Boxen, den Anfang macht der grell geschminkte Clown. Auch an diesem Nachmittag sammelt er die Kinder ein und lässt sie in einer Polonaise auf die Bühne marschieren. "Allah, was für ein unvergesslicher Tag", schwärmt eine Mutter. Zwischen den Tischen huschen Kellner umher, servieren Kuchen und schwarzen Tee. Ein wenig erinnert das Ganze an die Fresspartys, die Kinder bei McDonald's feiern können. Nur dass hier die meisten Mütter Kleider anhaben, die glitzern wie Weihnachtsbäume.

Die Kinder kreischen in die anschwellende Begeisterung hinein, sie scheinen vergessen zu haben, warum sie eigentlich hier sind. Jedenfalls bis sie auf der Bühne ihre Hosen runterlassen müssen und von Murat eine Betäubungsspritze bekommen. Da hilft es wenig, wenn die Eltern applaudieren, einige der Kinder können sich die Tränen nicht verkneifen. Sie schauen hilfesuchend von der Bühne herunter. Aber die Mütter haben sich rasch Kopftücher umgebunden und sind in Gebete versunken. Gemurmelt ist das arabische "Bismillahirrahmanirrahim" zu hören: "im Namen Gottes, des Barmherzigen". Die Väter halten verzückt die Handykameras hoch. Das Geschehen wird über mehrere Monitore gezeigt.

Wer in der Türkei ein Mann sein will, muss den Militärdienst absolvieren, heiraten und beschnitten sein. Wer es nicht ist, gilt als so seltsam wie ein atheistischer Schweinefleischliebhaber vom Mars. Im Islam wird die Beschneidung als Teil der Sunna, der vom Propheten Mohammed überlieferten Tradition, betrachtet. Einen festen Zeitpunkt gibt es im Islam nicht, sie findet aber meist vor der Geschlechtsreife statt. Eine Beschneidungsdebatte wie in Deutschland hat es in der Türkei nie gegeben. "Bei einer ordentlichen Durchführung ist die Beschneidung keine Körperverletzung", kommentiert Levend Özkan.

(RP)
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