Analyse Draghi holt die "dicke Bertha" raus

Frankfurt/Berlin · Sparer müssen weiter mit geringen Zinsen rechnen, Aktionäre, Kreditnehmer und Firmen können sich freuen: Die Europäische Zentralbank senkt den Leitzins, erhebt eine Strafgebühr für Banken und plant neue Milliardenspritzen.

"Ich habe eine Gänsehaut, dies ist ein historischer Tag", sagt der Börsenreporter eines deutschen TV-Senders aufgeregt. Soeben war das deutsche Aktienbarometer Dax über die Marke von 10 000 Punkten gesprungen. Unmittelbar davor hatte die Europäische Zentralbank (EZB) wahrgemacht, was Kapitalanleger zwar zuvor erwartet, aber nicht wirklich hatten glauben wollen: Die EZB senkt ihren Leitzins auf nur noch 0,15 Prozent. Sie führt erstmals einen Strafzins für Banken ein, die das ihnen geliehene Geld bei der Notenbank parken, statt es an Unternehmen und Verbraucher zu verleihen. Sie pumpt weitere 400 Milliarden Euro ins Bankensystem. Und sie bereitet ein Programm zum Ankauf von Kreditverbriefungen vor, die sie Firmen abkaufen will. Diese Maßnahmen, die EZB-Präsident Mario Draghi schon in Anlehnung an sehr große Geschütze im Ersten Weltkrieg als "dicke Bertha" bezeichnet hatte, haben weitreichende Folgen für Europas Wirtschaft.

Warum hat die EZB die Zinsen noch weiter gesenkt?

Die EZB will eine Deflation in der Eurozone mit allen Mitteln verhindern. In einer Deflation erwarten Konsumenten und Unternehmen weiter sinkende Preise. Sie halten sich deshalb mit Ausgaben zurück. Dadurch sinken die Preise weiter. In der Folge brechen Unternehmenserträge ein, Beschäftigte werden entlassen, die Wirtschaft rutscht ab in eine Depression. Anfang der 1930er Jahre während der Weltwirtschaftskrise hatten Notenbanken und Regierungen nicht die richtige Antwort auf die damalige Deflation: Ihre Spar- und Zinserhöhungspolitik verschärfte die Krise und mündete schließlich in den Zweiten Weltkrieg. Von einer solchen Situation ist Europa zwar heute weit entfernt, doch die Inflationsraten in der Euro-Zone sind gefährlich niedrig. Im Mai ging die Rate auf 0,5 Prozent zurück. Die Zinssenkung könnte das Risiko verkleinern, denn tendenziell verbilligen niedrige Zinsen Kredite und Investitionen und kurbeln so die Wirtschaft an. Das wiederum stärkt normalerweise den Preisauftrieb.

Warum ist die Inflation so niedrig?

Vor allem sinkende Energie- und Nahrungsmittelpreise ließen die Inflation zurückgehen. Durch den starken Euro sanken die Importpreise, was den Preisrückgang verschärfte. Vor allem aber ist die schwache Konjunktur außerhalb Deutschlands für die geringe Inflation verantwortlich: Noch ist die Schuldenkrise nicht überwunden.

Was bedeutet die Zinssenkung für die Sparer?

Sparer müssen jetzt mit noch geringeren Sparzinsen rechnen. Zudem wird die Phase sehr niedriger Zinsen noch über einen längeren Zeitraum anhalten, wie Draghi sagte. Kunden müssen auch damit rechnen, dass Banken Strafgebühren, die sie für geparktes Geld bei der EZB bezahlen müssen, in Form höherer Gebühren an sie weiterreichen.

Rettet die EZB Südeuropa auf Kosten der deutschen Sparer?

Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, kritisierte in der "Bild": Die EZB "plündert die Ersparnisse aus, sie bedroht die Lebensversicherung", kritisierte er in der "Bild"-Zeitung. Dagegen verteidigte Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg-Bank, die Notenbank: "Zu behaupten, die EZB enteigne Sparer, verkennt das Mandat der EZB. Ihre Aufgabe ist es nicht, Sparern selbst in Zeiten einer Finanzkrise einen gewünschten Ertrag für risikoarme Anlagen zu sichern", sagte Schmieding. Würde die Krise in eine Deflation münden, könnte am Ende sogar das gesamte Vermögen der Sparer verloren gehen.

Was bedeuten die Maßnahmen für Verbraucher, Firmen und Staaten?

Sie können sich künftig noch günstiger Geld bei den Banken und am Kapitalmarkt leihen. Für Verbraucher, die sich ein Haus oder Auto kaufen möchten, ist das positiv. Allerdings werden Preisblasen wahrscheinlicher. Investitionen in Wachstumsregionen werden weiter stimuliert. Das billige Geld könnte aber auch Staaten dazu verleiten, ihre Neuverschuldung auszuweiten.

Wie wirkt der Schritt auf Banken?

Banken müssen künftig einen Strafzins von 0,1 Prozent zahlen, wenn sie Geld bei der EZB horten. Fachleute bezweifeln aber, dass die Banken in Südeuropa darauf so reagieren werden wie erwünscht: Sie werden erst dann mehr Kredite an Firmen vergeben, wenn sie selbst besser aufgestellt sind und keine Kreditausfälle befürchten müssen.

Wie geht es weiter an der Börse?

Sehr viele Börsenexperten erwarten auch in den nächsten Monaten eher einen weiteren Aufwärtstrend beim Dax, nachdem er sich seit dem Absturz im Sommer 2011 innerhalb von drei Jahren fast verdoppelt hat. Schon Ende des Jahres sieht Ulrich Stephan, Kapitalmarktchef der Deutschen Bank, den Index zehn Prozent höher bei 11 000 Punkten. Es gehe Deutschlands Konzernen gut, ihre Schulden seien gesunken, Europas Börsen seien insgesamt im Aufschwung. "Es gibt weiter Luft nach oben", sagt Kurt von Storch, Co-Chef der Kölner Vermögensverwaltungsfirma Flossbach von Storch. Allerdings gibt es auch skeptische Stimmen. So warnt Ralf Zimmermann vom Düsseldorfer Bankhaus Lampe davor, dass Gewinne der Dax-Konzerne "nicht mehr so stark steigen wie bisher". Will heißen: Die Wachstumskurve der Kurse könnte flacher werden, ein Aufwärtssprung wie 25 Prozent in 2013 sei nicht zu erwarten. Negativ sieht der Schweizer Börsenexperte Marc Faber die Lage. Er erwartet bereits in den nächsten zwölf Monaten einen Absturz der Kapitalmärkte. "Wir stecken in einer riesigen Blase, die alles erfasst hat, von Aktien und Anleihen bis zu Ackerland."

Wie sollten sich Anleger verhalten?

Vermögensverwalter von Storch gibt folgenden Rat: "Am wichtigsten ist die breite Streuung der Geldanlagen. Bei Aktien sind Qualitätspapiere immer noch eine gute Wahl." Deutsche-Bank-Stratege Stephan ergänzt: "Anleger sollten sich bei Aktien regional möglichst breit aufstellen." Im Klartext: Deutsche Aktien sind eine interessante Geldanlage, aber weil sie nun schon so stark gestiegen sind, sollten Anleger auch in andere Länder streuen.

(mar)
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