Warschau Die Wut der Polen

Warschau · Seit der Wahl rückt das Nachbarland immer weiter nach rechts - das Verfassungsgericht soll entmachtet werden. Die EU steuert gegen.

Die Wut der Polen
Foto: dpa, ukit ase

Luxemburg ist eines der kleinsten Länder Europas. Wenn aber der langjährige Außenminister Jean Asselborn seine Stimme erhebt, wird sie in der EU gehört. Rechtzeitig vor Weihnachten wischte Asselborn, der derzeit im EU-Außenministerrat den Vorsitz innehat, alle Besinnlichkeit beiseite und polterte: "Wir dürfen nicht davor zurückschrecken, mit dem Finger auf Länder zu zeigen, in denen Grundrechte und Verfassung mit Füßen getreten werden." Im Sinn hatte Asselborn bei seiner Advents-Philippika keineswegs Russland, China oder Saudi-Arabien, sondern die EU-Mitglieder Ungarn und vor allem Polen.

Seit November regiert in Warschau die rechtspopulistische, in Teilen offen nationalistische Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS), und seither tobt an der Weichsel ein politischer Kampf um Grundrechte, die Verfassung und insbesondere das Verfassungsgericht. Es gilt als wichtigste Bastion gegen den autoritären Machtanspruch der PiS. Denn Parteichef Jaroslaw Kaczynski sagte: "Wir müssen Polen neu gestalten, und es muss eine große Umgestaltung sein."

In den vergangenen Tagen gingen in Warschau Zehntausende auf die Straße, um wahlweise für die "nationale Revolution" der PiS oder gegen die "Demontage der Demokratie" und eine "Turbo-Orbanisierung" im Land zu demonstrieren. Der Begriff der Orbanisierung bringt am ehesten auf den Punkt, was sich in Polen in diesen Wochen ereignet. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hatte nach seiner Wahl 2010 erst das Verfassungsgericht entmachtet und anschließend die Verfassung geändert - im Sinne einer halbautoritären, "illiberalen Demokratie", so sein Begriff.

Mit der EU liegt Orbán im Dauerstreit. In Polen steht nun Ähnliches zu befürchten. Die frisch gewählte PiS-Ministerpräsidentin Beata Szydlo ließ demonstrativ alle Europa-Fahnen aus ihrem Pressesaal entfernen. Parallel dazu kündigte Kulturminister Piotr Glinski an, die Staatsmedien in "nationale Kulturinstitute" umzuwandeln, und leitete eine personelle Säuberungswelle in den Redaktionen ein. Vor allem aber weigerte sich Staatspräsident Andrzej Duda, ebenfalls von der PiS, fünf Verfassungsrichter zu vereidigen, die noch vom alten, liberalkonservativ dominierten Parlament gewählt worden waren. Duda ist ein enger Vertrauter von Parteichef Jaroslaw Kaczynski, der im Hintergrund alle Fäden der PiS-Politik zieht. Kaczynski sagte: "Das Verfassungsgericht ist ein parteiisches Organ. Das werden wir ändern." Beobachter deuten diese Sätze als Agenda, das Verfassungsgericht, dessen Aufgabe es ist, auch Minderheitenrechte zu verteidigen, vollständig zu entmachten - ganz im Stile Orbáns.

Spätestens an diesem Punkt kommt die EU ins Spiel. Denn der ideologische Kern des Systemumbaus in Polen ist eine Renationalisierung, wie sie in Europa vielerorts zu beobachten ist, vom EU-skeptischen Dänemark über das notorisch mit dem Brexit liebäugelnde Großbritannien bis hin zum französischen Front National und den Separatisten in Katalonien. Im Osten des Kontinents hat die Flüchtlingskrise ans Tageslicht gebracht, wie viele Anhänger der Nationalismus hat.

Es ist kein Zufall, dass Linkspopulisten wie der tschechische Präsident Milos Zeman und der slowakische Premier Robert Fico in ihren nationalistischen Parolen mit Kaczynski und Orbán wetteifern. Fico sagt: "Ich will nicht eines Morgens in einer Slowakei mit 100.000 Arabern aufwachen." Kaczynski warnte im Wahlkampf davor, dass Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten "gefährliche Parasiten" einschleppen könnten.

Die Entwicklung im Wirtschaftswunderland Polen zeigt, wie schnell aus einer aggressiven Minderheit eine politische Mehrheit werden kann. Noch im Frühjahr schien die ökonomisch erfolgreiche Regierung der Tusk-Partei PO in Warschau fest im Sattel zu sitzen. Doch dann schlug die Stimmung um. Zuletzt war es sogar EU-Ratspräsident Donald Tusk selbst, zuvor Premierminister in Polen, der mahnte: "Diese Flüchtlingswelle ist zu groß. Wir müssen sie stoppen." Nicht nur die deutsche EU-Parlamentarierin Barbara Lochbihler reagierte entsetzt. Es sei "eine Ungeheuerlichkeit", dass sich Tusk in seiner Funktion als EU-Ratspräsident ungeniert zum Fürsprecher der nationalistischen Stimmung im Osten mache.

Experten wie der Stettiner Soziologe Waldemar Urbanik erklären dies vor allem mit einem diffusen Gefühl des Zukurzgekommenseins. "Die Polen haben angefangen, Vergleiche anzustellen", erläutert Urbanik. "Mehr als zehn Jahre nach dem EU-Beitritt verdienen sie im Durchschnitt noch immer nur ein Viertel dessen, was die Menschen in Westeuropa bekommen." Und nun mischten sich Neid und Wut mit einem "modischen Patriotismus".

(RP)
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