Istanbul Die Türkei wählt - Erdogans Pläne wackeln

Istanbul · Nach nur vier Monaten stehen in der Türkei am Sonntag Neuwahlen an. Sie entscheiden das politische Schicksal jenes Mannes, der die Politik in der Türkei seit 13 Jahren dominiert. Wegen seines Führungsstils gerät er zunehmend in die Kritik.

Am Anleger von Kadiköy, wo die Pendler morgens aus der U-Bahn strömen und zu den Fähren hasten, die sie vom asiatischen Ufer Istanbuls auf die europäische Seite des Bosporus bringen, sind sie alle vertreten: Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP hat hier ebenso einen Wahlkampfstand aufgebaut wie die bürgerliche Oppositionspartei CHP, die nationalistische MHP und die pro-kurdische HDP. Aber die wenigsten Passanten würdigen die Flugblätter und Plakate auch nur eines Blicks. Schon zum zweiten Mal in fünf Monaten sollen die Türken am Sonntag ein neues Parlament wählen. Viel Begeisterung ist nicht zu spüren. Dabei steht viel auf dem Spiel.

Der Name des Mannes, um den es am Sonntag geht, steht auf keinem Wahlzettel. Die knapp 56 Millionen wahlberechtigten Türken entscheiden nicht nur über die Zusammensetzung der künftigen Großen Nationalversammlung. Es geht um die Zukunft von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan - und einen möglichen Systemwechsel in der Türkei. Erdogan hofft am Sonntag auf eine starke Mehrheit für seine AKP. Dann könnte er eine Verfassungsänderung auf den Weg bringen und ein Präsidialsystem installieren, das ihm fast unumschränkte Macht gäbe. Verfehlt die AKP dagegen erneut die absolute Mehrheit, muss Erdogan seine hochfliegenden Pläne begraben.

Im Frühsommer ging der erste Anlauf daneben. Bei der Parlamentswahl vom 7. Juni stürzte die AKP von knapp 50 auf 41 Prozent ab - und verlor erstmals seit über zwölf Jahren ihre absolute Mehrheit. Das Wahlergebnis war auch eine schwere persönliche Niederlage. Denn obwohl die Verfassung den Präsidenten zur parteipolitischen Neutralität verpflichtet, hatte Erdogan sich im Wahlkampf ungeniert für die AKP ins Zeug gelegt. Jetzt hofft er darauf, dass die Wähler ihren, wie er es nennt, "Fehler" vom Juni korrigieren.

Aber die meisten Türken gehen eher lustlos zu den Urnen. Wahlmüdigkeit macht sich breit. "Sollen wir etwa so lange wählen, bis Erdogan das Ergebnis passt?", fragt die 23-jährige Istanbuler Studentin Ayse. Die in der Türkei sonst vor Wahlen übliche volksfestartige Stimmung wollte schon deshalb nicht aufkommen, weil dunkle Schatten über diesem Wahlkampf lagen. Der Kurdenkonflikt flammt wieder auf - angefacht von Erdogan, wie viele Kritiker glauben, der damit Stimmen aus dem nationalistischen Lager mobilisieren wolle. Aber nicht nur aus den Kurdenprovinzen im Südosten kommen fast täglich Meldungen über Tote und Verletzte. Am 10. Oktober sprengten sich zwei Selbstmordattentäter auf dem Bahnhofsvorplatz von Ankara in die Luft und rissen über 100 Menschen mit sich in den Tod. Mindestens einer der beiden Täter hatte Verbindungen zur Terrormiliz Islamischer Staat. Eine "Neue Türkei" hatte Erdogan den Wählern versprochen, er wollte das Land zur Führungsmacht der Region aufbauen. Stattdessen gerät die Türkei nun immer tiefer in den Treibsand der ethnischen und religiösen Konflikte des Nahen Ostens.

Wie kein anderer seit dem legendären Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk (1881 - 1938) hat Erdogan die moderne Türkei geprägt, seit 2003 als Premierminister, jetzt als Präsident. Die Massenproteste vom Sommer 2013 konnten ihm ebenso wenig anhaben wie die hernach aufgekommenen Korruptionsvorwürfe. Als Staatspräsident zieht Erdogan seit dem Sommer 2014 immer mehr Macht an sich. Kritiker werfen ihm vor, dass er die Meinungsfreiheit demontiert, die Justiz gängelt und die Gewaltenteilung untergräbt.

Erdogan, der den vorangegangenen Wahlkampf dominierte, hält sich diesmal zurück. "Das zeigt: Auch Erdogan rechnet nicht mehr mit einem überwältigenden Sieg der AKP", sagt der Politikberater Suat Özcelebi. Tatsächlich lassen die Umfragen ein ähnliches Wahlergebnis wie Anfang Juni erwarten. Die Pläne für ein Präsidialsystem, das alle anderen Parteien strikt ablehnen, wären damit vom Tisch. Erdogan verlöre auch seinen Einfluss auf die Regierungsgeschäfte. Schlimmer noch: Die Korruptionsvorwürfe gegen ihn und seine Familie könnten wieder hochkommen. Damit wird der kommende Sonntag zu einem Schicksalstag für Erdogan.

(RP)
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