"Die Sexismus-Debatte

Seit einigen Tagen geistert der Begriff "Sexismus" durch alle deutschen Medien. Aber was bringt die Debatte? Und ist sie wirklich notwendig? Wir baten fünf Frauen zu einem Streitgespräch.

War es eine Grenzüberschreitung, was Rainer Brüderle getan hat oder nur ein "Herrenwitz"?

Düker Es ist eine Grenzüberschreitung, wenn die Frau "Stopp" sagt und der Mann darüber hinweggeht. Die Journalistin hat diese Grenze gesetzt. Er hat sie bewusst übertreten, und das ist eine Form von sexualisierter Diskriminierung.

Tietjen Er verlässt die Augenhöhe. Sie wollte ihn in ihrem Beruf auf einer professionellen Ebene etwas fragen, und er hat sie auf eine andere Stufe gestellt. Das ist eine Form von sexueller Anmache.

Quadbeck Ich sehe die Kollegin nicht nur als Opfer. Klar hat Brüderle eine Grenze überschritten, indem er nicht darauf reagiert hat, dass sie zweimal seine Anzüglichkeiten abgewehrt hat. Aber sie ist tough auf ihn zugegangen und hat ihn gefragt, wie er sich in seinem Alter als Hoffnungsträger seiner Partei fühlt. Das kann man auch als diskriminierend betrachten.

Kelle Für mich ist das, was Herr Brüderle gemacht hat, unprofessionell und schlechtes Benehmen. Mit Sexismus hat das nichts zu tun. Wenn eine ältere Politikerin da gestanden hätte und mit einem solchen Spruch von einem jungen Journalisten angesprochen worden wäre — wir würden uns empören. Sexismus passiert für mich in klaren Machtverhältnissen, in Abhängigkeiten. Zwischen den beiden gab es kein Machtverhältnis.

Strack-Zimmermann Ich finde die Debatte hysterisch. Sie ist eine junge, dynamische Frau, die auch verbal dazu in der Lage ist, sich zu wehren. Ich glaube nicht, dass immer nur Männer Täter sind und Frauen Opfer. Solche Situationen gab es immer und wird es immer geben. Die Frage ist: Wie selbstbewusst gehen Frauen damit um?

Rainer Brüderles Werte sind im "Deutschlandtrend" von Januar auf Februar um neun Punkte gesunken.

Strack-Zimmermann Aber genau das war ja beabsichtigt mit dem Artikel, nichts anderes.

Ist die Journalistin das Opfer?

Düker Die Journalistin sieht sich gar nicht in der Opferrolle. Sie stellt ihn als Mann mit einem bestimmten Frauenbild dar. Für die Wähler ist es interessant zu erfahren, welches Frauenbild er vertritt und ob er Frauen respektiert. Und diese mehr als 90 000, die sich jetzt bei Twitter unter "#aufschrei" melden, haben eine Geschichte. Man kann nicht einfach sagen "Wehr dich doch". Wir müssen dafür sorgen, dass es zu solchen Übergriffen nicht kommt.

Warum empfinden Männer manchmal eine Annäherung als einen Flirt und eine Frau diese als Bedrängung?

Strack-Zimmermann Ich halte Flirten für nichts Schlechtes. Man muss doch mal anfangen, um zu wissen, ob man ankommt. Wenn mein Mann mich nicht angegraben hätte, hätte ich nie gewusst, dass er mich gut findet.

TIetjen Aber jeder Mann merkt doch, ob eine Frau eine Annäherung möchte oder nicht.

Kelle Nein, eben nicht. Durch diese ganze Sexismus-Debatte wissen Männer gar nicht mehr, wie sie Frauen noch ansprechen dürfen. Dürfen sie noch sagen "Das Kleid steht Ihnen gut"? Oder ist das schon Sexismus? Es kommt für uns Frauen ja auch darauf an, wer uns anspricht. Hätte George Clooney den gleichen Spruch gebracht wie Herr Brüderle, wäre die Geschichte an dieser Hotelbar vielleicht anders ausgegangen.

Aber warum glaubt Rainer Brüderle, bei dieser knapp 40 Jahre jüngeren Frau Chancen wie George Clooney zu haben? Hat das etwas mit Macht zu tun?

quadbeck Vielen Männern steigt das zu Kopf. Frauen in ähnlichen Positionen gehen mit Macht ganz anders um.

Kelle Ich mache mir Gedanken, was einen Mann in so einer Position dazu bewegt, sich so zu verhalten. Übrigens auch seiner eigenen Frau gegenüber, das haben wir ja noch gar nicht erwähnt.

DÜker Möchte ich von jemandem regiert werden, der so ein Frauenbild hat? Was ergibt sich daraus für eine Politik?

Strack-Zimmermann Dann möchte ich mal zurückblicken. Wenn das also der Ansatz ist, frage ich mich, ob wir in der Vergangenheit nicht von Herren geführt wurden, die in diesen Dingen mit Sicherheit ein fröhliches Leben geführt haben. Es ist ja geradezu grotesk, wenn Sie Gerhard Schröder und Doris Schröder-Köpf als Beispiel nehmen...

DÜker ...sie hat ihn aber geheiratet. Frau Himmelreich wollte das sicherlich nicht. Das ist doch eine völlig andere Situation.

Tietjen Ich glaube, dass Männer, die Macht haben, eine bestimmte Art haben, damit umzugehen. Bei Dominique Strauss-Kahn zum Beispiel. Oder als ich damals von der Affäre zwischen Bill Clinton und Monica Lewinsky gehört habe, dachte ich mir: Wie kann er nur? Da habe ich einen moralisch höheren Anspruch an Politiker.

Strack-Zimmermann Es gibt sicher Frauen, die es erstrebenswert finden, mit dem mächtigsten Mann der Welt eine Affäre zu haben. Und er hat sie ja nicht vergewaltigt. Aber jetzt führen wir eine moralische Debatte.

Was denken Sie über die Debatte im Internet?

Strack-Zimmermann Schauen Sie sich doch mal diesen Twitter-"#aufschrei" an: Die Anonymität im Internet wird dazu genutzt, sich einmal kollektiv zu erbrechen. Die Initiatorin ist 25 Jahre alt und will Feministin sein.

Anne Wizorek, die "#aufschrei" begonnen hat, ist 31.

Düker Was heißt das auch? Darf man Feministin erst ab 50 sein?

Fakt ist: Unter den 90 000 "#aufschrei"-Einträgen bei Twitter gibt es auch eindrückliche Schilderungen von sexueller Belästigung: Eine junge Frau hatte zum Beispiel nachts eine Panne, und der Mechaniker meinte, sie könne die Reparatur auch anders bezahlen.

Strack-Zimmermann Dann muss sie ihn eben anzeigen.

Im Job wird das für eine Frau erst recht schwierig, wenn der Chef zur Mitarbeiterin sagt, er habe heute keinen Arbeitsplatz, sie könne sich ja auf seinen Schoß setzen. Auch diese Situation wurde in den Twitter-Einträgen geschildert.

Düker Das ist übergriffig. Man kann doch der Frau in solch einem Moment nicht die Verantwortung zuweisen und einfach verlangen, dass sie sich wehren soll.

Tietjen Das sind schon Szenen, die sich in Betrieben abspielen. Wir haben etwa für unsere Auszubildenden ein eigenes Forum, in dem sie sich austauschen können. Darin schildern junge Auszubildende, dass der Chef ihre Nähe sucht und sie anfasst. Die wissen gar nicht, wie sie damit umgehen sollen. Außerdem haben sie Angst, dass sie nicht übernommen werden, wenn sie sich wehren. Ganz so einfach ist das nicht. Es gibt ja auch viele Frauen, die sind nicht so selbstbewusst wie wir. Denen können wir nicht einfach sagen: Wehr dich! Was machen wir mit denen?

Strack-Zimmermann Dann müssen wir es ihnen beibringen. Dann brauchen sie Unterstützung und müssen sie auch bekommen.

kelle Aber an den Punkt, an dem Männer merken, dass so etwas nicht geht, kommen wir nur, wenn die Frauen sie anzeigen. Solche Männer hören nicht auf, wenn sie nicht auch die Konsequenzen für ihr Tun spüren. Und ernsthafte Fälle von Belästigung muss man ganz klar von Bagatellen trennen.

Strack-zimmermann Man muss vor allem unterscheiden zwischen Nötigung, die kriminell ist, und dem normalen Umgang von Männern und Frauen im Alltag.

Wird die Sexismus-Debatte fair geführt?

Strack-Zimmermann Diese Debatte ist aufgeregt, hysterisch, völlig entgleitend in diesem anonymen Forum Internet. Ich kann mich dort "Mickymaus" nennen und sagen, mein Kollege springt immer auf mich drauf — obwohl es vielleicht gar nicht stimmt. Ich kann mitmischen und anheizen. Niemand weiß, welche Geschichten wirklich wahr und damit kriminell sind und was nur ausgedacht ist.

Quadbeck Aber es bringt nichts, wenn wir jetzt Debattenschelte betreiben. Die Debatte läuft, wie sie läuft, und so werden sicher viele Debatten zu anderen Themen auch noch laufen.

Strack-Zimmermann Aber das muss ich nicht gut finden.

Quadbeck Ich finde die Debatte auch schräg, und ich weiß auch nicht, welche Auswirkungen sie haben wird — ob sie wirklich die Fronten zwischen Männern und Frauen verhärten wird oder ob durch sie in dem ein oder anderen Betrieb Frauen den Mut haben, sich zu wehren.

Das Internet bietet aber für die Diskussion auch Vorteile.

Quadbeck Die Anonymität des Internets hat zwei Seiten: Da ist viel Mist unterwegs, und Leute lassen sich anonym aus, andererseits finden Menschen dort den Mut, sich zu öffnen und Erlebnisse zu schildern. Die Debatte sollte aber nicht ums Internet gehen, sondern um die Frage: Was muss eigentlich geschehen, damit ein normaler Umgang zwischen den Geschlechtern möglich ist und sich die Zahl verbaler oder tätlicher Übergriffe minimiert?

DÜker Respekt und Augenhöhe sind die Lösung für das Problem. Beides muss sich eine Frau nicht erkämpfen, sondern das ist eine Grundhaltung. Diese können wir nicht durch Rezept verordnen, sondern sie muss durch eine gesellschaftliche Debatte wie diese erreicht werden.

Laut Umfragen hat mindestens jede zweite Frau sexuelle Belästigung in irgendeiner Form schon erfahren. Es gibt Frauen, die so darunter leiden, dass sie gesundheitliche oder existenzielle Sorgen haben.

Strack-Zimmermann Ja, die gibt es natürlich. Ihnen hilft man aber nicht durch solch einen Internetsturm.

Düker Aber er schafft Öffentlichkeit und ein Bewusstsein dafür, dass man nicht alleine mit diesen Erlebnissen ist. Neudeutsch heißt das "Empowerment". Etwa 95 Prozent der sexuellen Übergriffe werden gar nicht angezeigt. Und diese wenigen Frauen, die das machen, erleben auch noch, dass ihnen nicht geglaubt wird.

Wie schlimm ist der Sexismus denn in Deutschland?

Quadbeck Ich glaube, dass Sexismus in den 60er und 70er Jahren viel weiter verbreitet war als heute. Und das hat auch damit zu tun, dass auch in Unternehmen und der Politik die Macht zwischen Männern und Frauen mittlerweile besser aufgeteilt wurde. Wir haben eine Bundeskanzlerin und Ministerinnen. Das hat dazu geführt, dass sich der Umgang verändert hat. In der rot-grünen Bundesregierung haben sich die Ministerinnen vor den Sitzungen immer zum Kaffee getroffen, damit sie überhaupt mal zu Wort kamen. Geredet haben nämlich nur Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Otto Schily. Selbst die SPD-Männer sagen, dass die Kanzlerin einen ganz anderen Stil hat, mit ihrer Macht umzugehen. Es tut dem Politikbetrieb und der ganzen Gesellschaft gut, wenn sich die männliche und weibliche Art ausbalancieren.

Tietjen Die Diskussionen um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz sind in den 90er Jahren hochgekommen, dann ist das Thema wieder eingeschlafen. Man hat nicht mehr so viel darüber gesprochen. Durch die neue Debatte sind unsere Betriebs- und Personalräte wieder viel hellhöriger geworden, wenn eine Frau angemacht und von ihrem Chef sexuell belästigt wird. Wenn sie den Mut findet, damit in die Öffentlichkeit zu gehen, dann braucht sie Unterstützung. Das schafft sie nicht alleine.

Strack-Zimmermann Also ist die Frau wieder das Opfer.

Tietjen Nein. Sie schafft es nur nicht alleine, gegen den Chef vorzugehen. Sobald sie den Mund aufmachte, war es früher so, dass die Frau einfach versetzt wurde.

Strack-Zimmermann Ich wehre mich nur einfach gegen das Klischee, dass der Chef immer der Täter ist.

Tietjen Aber so sind doch in vielen Betrieben noch die Hierarchien. Es gibt Abhängigkeiten.

Kelle Es gibt auch Sekretärinnen, die wollen gerne mit dem Chef etwas anfangen.

Es hat auch niemand etwas gegen einvernehmliche Annäherungen. Das wäre ja schlimm.

Quadbeck In Betrieben, in denen Frauen auch in Führungspositionen sitzen, stellen sich bestimmte Probleme allerdings gar nicht. Ich habe neulich ein Interview geführt mit einem Krankenkassenchef. Er erzählte mir, dass einige seiner Mitarbeiter Frauen, die vorbeikamen, Noten für ihr Aussehen gegeben haben — auf einer Skala von eins bis zehn. Eine Mitarbeiterin hat sich darüber beschwert, und ihr Vorgesetzter antwortete nur: "Was willst du denn? Du hast doch eine Acht bekommen!" Er hat das Problem definitiv nicht erkannt.

Wie hat sie sich in dieser Situation verhalten?

Quadbeck Sie hat richtig gehandelt und ist zum nächsthöheren Chef gegangen. Der hat gesagt: Leute, so geht's nicht. Je gemischter also die Teams sind, desto geringer die Gefahr, dass solche Dinge passieren.

Strack-Zimmermann Die Mischung ist sehr wichtig. Ich bin ein großer Gegner von reinen Frauenteams.

In dieser Debatte sehen sich kurioserweise die Männer mittlerweile als Opfer. Wolfgang Kubicki (FDP) will nicht mehr mit Journalistinnen alleine sprechen, andere Männer wollen mit einer Frau keinesfalls allein Aufzug fahren.

Kelle Männer sind total verunsichert, was sie überhaupt noch sagen dürfen. Ich habe Hunderte Zuschriften auf meine Kolumne zu diesem Thema bekommen. Die Männer sagen: Wie schön, dass es Frauen gibt, die sich noch normal verhalten. Früher hätten sie Frauen und Männern die Tür aufgehalten, jetzt halten sie sie nur noch Männern auf.

Das ist doch albern.

Kelle Natürlich. Aber es gibt Männer, die sagen: Ich mache so etwas nicht und habe so etwas nie gemacht, und ich lasse mich als Mann auch nicht so behandeln. Wir bauen zurzeit die Front auf.

Düker Jetzt gehen Sie gerade in eine Männer-Diskriminierung. Sie unterstellen Männern Blödheit.

Kelle Wie bitte?

Düker Ja, Sie unterstellen Männern eine Blödheit, dass sie das eine nicht von dem anderen unterscheiden können. Jeder halbwegs intelligente Mann, und dazu gehören auch Spitzenpolitiker, hat begriffen, wo da die Grenze ist — das traue ich erst einmal einem Mann zu. Und diesen armen, verunsicherten Mann, den Sie uns da zeichen und der uns nie wieder die Tür aufhält, den halte ich für eine Chimäre.

Quadbeck Eine gewisse Verunsicherung bei den Männern gibt es allerdings schon, weil sich das Frauenbild ständig wandelt. Frauen ändern sich, und in den vergangenen zehn Jahren sind sie in Positionen gekommen, die man sich früher nicht hätte vorstellen können. Und natürlich sind sie insgesamt verunsichert. Jetzt kommt diese Debatte noch

(RP)
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