"Die Organisation des Vatikan ist unzeitgemäß"

Interview Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) zur Bilanz des Papstbesuchs

Einige waren enttäuscht, dass der Papst nicht größere Schritte zur Ökumene gemacht hat. Was denken Sie?

Kretschmann Ich bin nicht davon ausgegangen, dass der Papst aus diesem Anlass auf einmal seine Grundsätze korrigiert. Ich erwarte Reformschritte generell weniger zu solchen Anlässen, vielmehr dazwischen. Was ich mir gewünscht hätte, ist, dass der Papst vielleicht auf praktisch-seelsorgerische Probleme konfessionsverschiedener Ehen eingegangen wäre im Sinne von: "Ich verstehe euch, wir denken über konkrete Lösungen nach."

Benedikt setzt eben als Kirchenlehrer und Professor andere Akzente – oder?

Kretschmann Vor allem mit seiner Bundestagsrede hat er das gezeigt. Die fand ich sehr klug und sehr angemessen, weil er auf die eigentlichen Grundlagen politischen Handels einging.

Und die der Rede ferngeblieben Abgeordneten auch aus den Reihen der Grünen?

Kretschmann Für die habe ich kein Verständnis. Jemandem demonstrativ nicht zuzuhören, das ist das Gegenteil von modern und fortschrittlich. Der Papst repräsentiert eine Milliarde Katholiken und er hat, wie wir in den vergangenen Tagen gehört haben, der Welt etwas zu sagen. Ich hoffe, dass die Ferngebliebenen wenigstens seinen Redetext nachlesen.

Ist es für einen deutschen Katholiken leicht, Papst und Kirche zu kritisieren?

Kretschmann Die Kirche vertritt tatsächlich einige Positionen, etwa beim Verbot künstlicher Empfängnisverhütung, denen kaum ein Katholik folgt, weil sie von vielen für falsch gehalten werden.

Braucht nicht die pluralistische Gesellschaft mit allen möglichen Positionen und Meinungen eine große, widerständige kritische Stimme?

Kretschmann Es ist geradezu die Aufgabe der Kirche, auch widerständig zu sein. Aber das geht immer nur argumentativ.

Was meinen Sie konkret?

Kretschmann Nehmen Sie das Nein zu Frauen in Weiheämtern der Kirche. Das kann die Kirche ja tun. Aber dann soll sie es bitteschön begründen und nicht sagen: "So ist es und so bleibt es." Meine Hauptkritik am Vatikan ist, dass dort nicht richtig mit Kritik umgegangen wird.

Manche behaupten, jeder Papst sei nach kurzer Zeit vom vatikanischen Apparat eingemauert.

Kretschmann Die ganze Organisation des Vatikans passt nicht ins 21. Jahrhundert. Denken Sie an den Missbrauchsskandal, der plötzlich wie ein Vulkan hochgegangen ist. Das zeigt mir, dass im Vatikan bestimmte Dinge nicht offen diskutiert werden. Erst nach dem starken Druck der Öffentlichkeit hat sich die Kirche der Situation gestellt. Da herrschte zunächst ein Geist der Vertuschung.

Benedikt hat sich nach dem Stand des baden-württembergischen Großstreit-Objekts Stuttgart 21 erkundigt. Was wollte er wissen?

Kretschmann Er hat sich nach den Umständen und Hintergründen erkundigt. Auf meinen Hinweis, es sei immer schwieriger, die pluralistische Gesellschaft zusammenzuhalten, meinte er, auch die Kirche werde pluralistischer und sei schwerer zusammenzuhalten.

Die Ministerin und Katholikin Annette Schavan hat einmal gesagt, aus der Kirche bringe sie nichts und niemand jemals raus. Wie steht es mit Ihrer Festigkeit?

Kretschmann Ich war schon einmal aus meiner Kirche raus. Ich war in einem katholischen Internat. Das genügt vielleicht als Stichwort. Es hatte aber auch mit der 68er-Protest-Bewegung zu tun.

Warum sind Sie wieder in die Kirche eingetreten?

Kretschmann Viele Fäden waren nie gerissen. Ich habe irgendwann wieder meinen Frieden mit der Kirche gemacht. Wenn man das bewusst so macht, dann bleibt man auch in der Kirche drin. Ich werde also der Kirche treu bleiben, bis dass der Tod uns scheidet, (lacht) obwohl man nach katholischem Verständnis ja nicht durch den Tod von der Kirche getrennt ist.

Der Papst ist abgereist. Geht die Gesellschaft nun wieder zur Tagesordnung über, als sei nichts gewesen?

Kretschmann: Nein, sein Besuch hat lange Wirkungslinien. Er wird auch kritisch gewürdigt werden. Und so lange die Kirche auch engagiert kritisiert wird, ist sie in einer guten Situation. Ernst würde es erst, wenn es den Leuten egal wäre, was die Kirche macht.

(RP)
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