Berlin Die moderne Welt ist unfähig zur Trauer

Berlin · Der Berliner Politologe Herfried Münkler analysiert, wie unsere Gesellschaft versucht, mit Terrorakten umzugehen.

Unsere Welt scheint zu taumeln - zwischen Verschwörung und Terrorakt, diversen Fehlalarmen, Spielabsagen und sonstigen Verunsicherungen. Gerät alles aus den Fugen? Vermutlich nicht, doch unsere Wahrnehmung spricht eine andere Sprache - der Grund: Wir haben mehr im Blick als unsere enge Umgebung, weil wir stets mit einer globalen Nachrichtenlage konfrontiert werden, sagt der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Diese Globalisierung unserer Information führt "einerseits zu einem gesteigerten Gefühl der Bedrohung und fördert andererseits die Neigung zur Vergleichgültigung".

Das ist nur bedingt eine Sache der Medien. Zwar richteten diese den Fokus ihrer Aufmerksamkeit gerne auf bestimmte Entwicklungen - und in der Regel solche, die schlecht sind und etwas Bedrohliches haben. Doch neben dieser medialen Heraushebung des Katastrophalen gibt es eben auch "eine ungeheure mediale Anstrengung zur Verschönerung und Überzuckerung unseres Alltags; man denke nur an die Fülle der Ausflugs- und Liebesfilme, die regelmäßig im Fernsehen gezeigt werden", so Münkler im Gespräch mit unserer Redaktion.

Seine Beobachtung: Das Gute und das Schlimme werde medial eindeutiger voneinander getrennt, als dies in der Realität der Fall ist. Und es geschieht in hurtiger Abfolge. Der Effekt: Wir vergessen Katastrophen schneller als früher oder begegnen ihnen mit heroischer Gelassenheit. Das hört sich negativer an, als es ist. Wobei Münkler zwischen Reinigung und Vergessen unterscheidet. "Frühere Gesellschaften hatten Rituale, die sie einsetzten, um nach Katastrophen für sich einen Neuanfang in Szene zu setzen." Die Chance eines Wiederbeginns markiert die Vorstellung, "dass alles, was gewesen ist, nunmehr hinter uns liegt, dass die Dinge bereinigt sind" - ein Akt von Selbstreinigung der Gesellschaft. Das Vergessen komme ohne rituelle Bestätigung aus; es ist nur "ein schlichter Akt des Untergehenlassens". Das hat Folgen. Denn bleibt die Vergangenheit unaufgearbeitet im Kollektiv-Bewusstsein liegen, kehrt sie bei Gelegenheit zurück.

Die Psychoanalytiker Margarete und Alexander Mitscherlich haben dieses Phänomen einst bei den Deutschen der Nachkriegsgesellschaft ausgemacht; indem sie auch im Aufbaueifer eine Form der Verdrängung sahen. "Wie aber können wir in den Brunnen unserer Erinnerung hinabsteigen müssen, wie Thomas Mann das ausgedrückt hat, um mit uns wieder ins Reine zu kommen?", fragt der 64-jährige Wissenschaftler. Seine Antwort ist der Realität geschuldet. "Das ist nur möglich, wenn wir viel Zeit und viel Ruhe haben, wenn wir gleichsam aus dem Gang des Geschehens aussteigen können und Distanz zu uns nehmen. Doch das können moderne Gesellschaften nicht, sie müssen jeden Tag weiterfunktionieren, und deswegen ist, wie ich meine, die Unfähigkeit zu trauern, von der die Mitscherlichs gesprochen haben, kein spezifisch deutsches Phänomen, sondern eines der modernen Welt mit ihren Funktionszwängen, ihrer Hektik, ihrer Betriebsamkeit."

Der Umgang moderner Gesellschaften etwa mit Terrorakten unterscheidet sich zu früher aber auch in der Neigung, die jeweilige Katastrophe als Ausdruck einer bedeutenden Entwicklung zu sehen - im Extremfall: eines Eingreifens Gottes. Bestes Beispiel ist für Münkler der Untergang der biblischen Städte Sodom und Gomorra. Die Katastrophe wird "als ein Zeichen interpretiert, das die Menschen behalten sollen, damit es ihnen nicht selbst so ergeht, wie den Bewohnern beider Städte. Es ist nicht die Katastrophe selbst, sondern deren sinnhafte Deutung, die der Platzhalter im Gedächtnis von Gemeinschaften und Verbänden ist." Ein religiös grundierter Terrorismus unternehme oft den Versuch, seine Handlungen durch solche Erklärungen sinnfällig zu machen. Wie in Paris: Die "Hauptstadt der Sünde und des Ehebruchs" sollte demnach von den "Gesegneten des Herrn" angegriffen werden. Das sei die Legitimation des wahllosen Mordens sowie der strategische Versuch der Täter, die mürrische Indifferenz, mit der unsere Gesellschaften solche Ereignisse nach einiger Zeit vergessen und vergleichgültigen, zu konterkarieren. "Was sich darin im Übrigen auch zeigt, ist der notorisch antiurbane Effekt der Asketen aus der Wüste, die sich als die großen Racheengel in den städtischen Raum einschreiben wollen", so Münkler.

(los)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort