Interview: Thomas De Maizière Und Lothar De Maizière Die Mauer konnte sie nicht trennen

Einer im Osten, einer im Westen: Die Cousins blieben auch im geteilten Deutschland in Kontakt. Während der Wendezeit arbeiteten sie zusammen.

Was haben Sie am 9. November 1989 gemacht, als die Mauer fiel?

Lothar de Maizière Ich war im Französischen Dom am Gendarmenmarkt bei einer Veranstaltung der evangelischen Kirche zur Frage "Wie weiter in unserem Land?", als ein junger Mann reinkam und rief: "Die Mauer ist offen!" Ich dachte, jetzt rennen alle los. Auf Vorschlag des Versammlungsleiters haben wir aber erst noch die Vorstellungen weiterer Gruppen angehört.

Aber dann sind Sie zur Mauer gefahren?

Lothar de Maizière Nein. Ich hatte mir am Nachmittag ein paar Notizen dafür gemacht, was ich sagen könnte, wenn ich am 10. November zum Vorsitzenden der DDR-CDU gewählt werden würde. Mir war klar: Den Zettel kannst du jetzt wegschmeißen. Außerdem muss ich zugeben, dass ich die ganze Zeit Angst hatte. Geht das gut? Dreht jetzt noch irgendeiner durch? Das Fernsehen zeigte die Bilder. Ich habe noch nie so viele Menschen gesehen, die regelrecht außer sich waren.

Waren Sie auch außer sich?

Thomas de Maizière Ich war Pressesprecher der Westberliner CDU, von der nach einer Wahlniederlage eigentlich niemand so richtig etwas wollte. Nachdem ich die Pressekonferenz von Günter Schabowski im DDR-Fernsehen gesehen hatte, habe ich mit meinem Chef Eberhard Diepgen eine Presseerklärung vorbereitet, in der er formulierte: "Das ist der Tag, auf den ich seit dem Mauerbau gewartet habe." Das hat mich richtig gerührt. Ich bin an dem Abend selbst nicht mehr rausgegangen; meine Frau war hochschwanger. Am folgenden Wochenende dann natürlich. Ich erinnere mich an eine Szene am Brandenburger Tor, wo vom Westen aus die Mauer gestürmt werden sollte und die Sicherheitskräfte der DDR in Stellung gebracht wurden. Da hatte ich schon Sorge, dass es Probleme geben könnte. Aber es hat sich dann ja alles friedlich entwickelt.

Haben Sie zu Mauerzeiten den Familienkontakt pflegen können?

Thomas de Maizière Wir durften wegen der hohen militärischen Funktion meines Vaters lange Zeit nicht in die DDR fahren, nicht einmal nach Westberlin. So habe ich meine Vettern und Cousinen und die ältere Generation erst als Student kennengelernt, und zwar bei Familientreffen, die Lothar organisiert hat. Immer Freitag nach Pfingsten. LOTHAR DE MAIZIÈRE Ja, das war immer bei uns in Ostberlin, weil die Wessis alle mit Tagespassierschein kommen konnten. Wir hätten ja nie so viele Aufenthaltsgenehmigungen, die zur Übernachtung berechtigten, bekommen. Wir haben jedes Jahr einen reden lassen, und zwar im Wechsel einen aus Westelbien und einen aus Ostelbien. 1988 warst du dran, und ich weiß noch heute, was du gesagt hast: "Unsere Familientreffen sind der Versuch, Normalität zu leben bei allgegenwärtiger Anormalität." Uns hat sehr geholfen, dass wir immer gemeinsam Musik gemacht haben. Da wurden vorher Noten hin- und hergeschickt, auch mit Metronom-Angaben, damit wir wussten, welches Tempo ungefähr zu erwarten steht.

Welches Verhältnis hatten Ihre Väter?

Lothar de Maizière Kein ganz einfaches. Onkel Uli kam aus britischer Gefangenschaft in die britische Zone, mein Vater aus sowjetischer Gefangenschaft in die Sowjetzone. Sie waren einander in ihren jeweiligen Karrieren auch nicht gerade förderlich. Für deinen Vater war es nicht gut, so einen Bruder im Osten zu haben, der juristisch gegen den Generalbundesanwalt vorgeht, und für uns war es auch nicht gerade das Allerschönste, den Generalinspekteur der Bundeswehr zum Onkel zu haben.

Wer von Ihnen beiden ist preußischer?

Thomas de Maizière Lothar. LOTHAR DE MAIZIÈRE Wenn es Thomas sagt. THOMAS DE MAIZIÈRE Ich bin ja viel im Rheinland aufgewachsen, habe im westlichen Westfalen studiert und lebe jetzt seit vielen, vielen Jahren in Sachsen. Und insofern bin ich nicht mehr so preußisch.

Aber der Preußischste im Kabinett.

Thomas de Maizière Das kann schon sein, das ist eine Frage der Haltung. Bei mir ist keine Pickelhaube zu Hause im Schrank. LOTHAR DE MAIZIÈRE Bei mir auch nicht. Preußisch und protestantisch, das war in der DDR ein gewisser Schutzmantel. Man war eben anders. Man machte sich nicht gemein mit den Genossen.

Wie schnell wussten Sie nach dem 9. November, dass da ein gemeinsames Deutschland entsteht?

Thomas de Maizière Der 9. November kam nicht aus dem Nichts. Und es gab wenige Tage davor auch ein Treffen zwischen den Chefs der Westberliner und der Ostberliner CDU. Der damalige Generalsekretär Volker Rühe wollte mit der Blockpartei Ost-CDU nicht reden. Das hielten wir für falsch und haben es anders gemacht. Lothar hatte sich da reingeschmuggelt, und dabei wurde auch klar, dass wir zusammenarbeiten werden. LOTHAR DE MAIZIÈRE Am Abend vorher hab' ich ihm gesagt: Wir sehen uns morgen, aber frag' mich nicht, warum. Und dann war er erstaunt, dass eigentlich ich der Wortführer war. Als er mich auf dem Klo nach den Hintergründen fragte, habe ich ihm gesagt, dass ich als neuer Vorsitzender vorgesehen sei.

Wie wichtig waren Sie dafür, dass es dann doch zusammenging?

Lothar de Maizière Als die Wahlen vom 6. Mai auf den 18. März vorgezogen worden waren, hat sich Helmut Kohl gefragt, welche Verbündeten er hat. Es kam zu einem Gespräch mit ihm, und ich habe ihm erklärt: "Wir waren zwar eine Blockpartei, aber ich habe in allen Kreisen der DDR ein Büro, verfüge über fünf Landeszeitungen und kann einen flächendeckenden Wahlkampf machen." Für solche pragmatischen Erwägungen war der Kanzler immer offen. THOMAS DE MAIZIÈRE Ich war als junger Mitarbeiter für diese Frage nicht so wichtig. Aber als Lothar wichtig wurde, haben sich viele Leute aus dem Westen an ihn rangeschmissen und wollten ihm helfen. Da hat er gesagt: "Nein, ich nehme den Thomas, dem vertraue ich." LOTHAR DE MAIZIÈRE Blut ist dicker als Wasser. Dieser Familienspruch gilt auch für uns.

Und dann haben Sie eine gewisse Angela Merkel als stellvertretende Regierungssprecherin empfohlen?

Thomas de Maizière Ja, aber das wird überschätzt. Ich hatte sie kennengelernt, als wir zusammen innerhalb weniger Stunden einmal eine Pressekonferenz zum Rücktritt von Wolfgang Schnur zu organisieren hatten. Angela Merkel war Sprecherin des Demokratischen Aufbruchs. Als ich während der Koalitionsverhandlungen intensiver beraten habe, kam der designierte Regierungssprecher auf mich zu, und wir haben über seinen Stellvertreter-Posten gesprochen. Da habe ich Angela Merkel genannt. Ich will das nicht größer machen, als es war. Und es hatte auch mit dem Zufall zu tun, dass die SPD den Posten nicht beanspruchte. LOTHAR DE MAIZIÈRE Er hat die Angela angesprochen, und die hat sich Bedenkzeit erbeten und ist erst mal nach London gefahren. Von ihrer Antwort habe ich sogar noch eine Fotokopie zu Hause: "Von meiner Reise zurückkehrend, teile ich Ihnen mit, dass ich den Posten annehme." THOMAS DE MAIZIÈRE Unsere enge Beziehung kommt nicht von dieser Empfehlung, sondern von der Regierungszeit danach und von den Verhandlungen zum Einigungsvertrag. Da ist das gewachsen, nicht vorher.

Und Ihr erster Eindruck von ihr?

Lothar de Maizière Ich hatte sie als Pressesprecherin des DA erlebt, und zwar bei den Wahlkampfauftritten mit Helmut Kohl. Diese Allianz für Deutschland, das war keine Liebesheirat, das war ein Zweckbündnis für den Wahlkampf, und es krachte dauernd zwischen den Parteien. Damals ist mir aufgefallen, dass sie sehr gut moderieren kann.

Wäre Merkels weiterer Aufstieg ohne Sie beide möglich gewesen?

Lothar de Maizière Da können wir spekulieren, wie wir wollen. Jedenfalls kam Kohl nach der ersten gesamtdeutschen Wahl zu mir und sagte, er wolle ein weiches Ressort mit einer ostdeutschen Frau besetzen. Drei Fliegen mit einer Klappe: weich, ostdeutsch und Frau. Wen ich ihm da empfehlen könne. Da habe ich gesagt: Frau Doktor Merkel, die ist gescheit. "Na gut, dann nehm' ich die", war seine Antwort. Aber ich glaube, Angela Merkel ist diejenige, die man am wenigsten über Beziehungsgeflechte definieren kann. Die ist sie selbst und kein anderer. THOMAS DE MAIZIÈRE Sie hat ihren Weg selbst gemacht.

25 Jahre danach - wie erklären Sie sich die Diskussion entlang alter ostdeutscher und westdeutscher Verhaltensmuster, die Reflexe von Putin-Gegnern und Putin-Verstehern?

Lothar de Maizière Wir haben vor zwei Jahren für unseren Petersburger Dialog eine Meinungsumfrage gemacht. Da gab es einen signifikanten Unterschied: Die Ostdeutschen sehen die Russen wesentlich positiver als die Westdeutschen. Sie müssen sehen, dass im Osten über 40 000 Menschen in Russland studiert haben. Ich behaupte: Noch heute spielt das Gewandhaus-Orchester in Leipzig eine Schostakowitsch-Symphonie anders, als es das Kölner Symphonie-Orchester tut.

Nämlich?

Lothar de Maizière Erdiger. Russischer. THOMAS DE MAIZIÈRE Ich bin mir nicht so sicher. Ich glaube, dass diese Umfrageergebnisse auch zustande kommen, weil immer nach Ost und West gefragt wird. Sie können ja auch mal die Norddeutschen und die Süddeutschen fragen. Da kämen Sie auch zu unterschiedlichen Ergebnissen. Ihre Frage wird auch von unterschiedlichen Generationen unterschiedlich beantwortet. Interessant ist etwa, dass in der Generation der Älteren im Westen, die Krieg und Gefangenschaft erlebt haben, die Zahl der sogenannten Putin-Versteher besonders groß ist. Obwohl sie antikommunistisch erzogen worden sind, sind sie so geprägt, dass man sich mit den Russen am besten nicht anlegt.

Die Kernfrage lautet doch: Hat Putin schuld, oder ist der Westen nicht genug auf russische Bedürfnisse eingegangen? Wo liegt die Wahrheit?

Thomas de Maizière In Fragen von Interessenslagen gibt es keine Wahrheit, sondern da gibt es nur Einschätzungen. Nach meiner Einschätzung haben wir die Interessen Russlands nicht zu wenig berücksichtigt. Das Freihandelsabkommen, das der Anlass für den Streit war, ist von dem russlandfreundlichsten Präsidenten, den die Ukraine seit vielen Jahren hatte, Herrn Janukowitsch, mit Wissen Putins ausgehandelt worden. Wenn man betrachtet, wie die Dinge auf der Krim und nun wieder in der Ost-Ukraine gelaufen sind, so müssen sie von langer Hand militärisch vorbereitet worden sein. Eine Isolierung Russlands ist weder in unserem noch im russischen Interesse. Vor diesem Hintergrund finde ich alle Bemühungen, im Gespräch zu bleiben, richtig. Bei alledem muss aber stets klar sein: Die Unverletzlichkeit der Grenzen war und ist konstitutiv für unsere Nachkriegsordnung, und das muss auch so bleiben.

Gibt es nach 25 Jahren noch eine Mentalitätsgrenze zwischen Ossis und Wessis?

Thomas de Maizière Ich glaube, das ist eine Generationenfrage. Für diejenigen, die vor 1989/90 voll erwachsen sozialisiert worden sind, wie wir beiden, wird die Teilung immer prägend bleiben. Die jüngere Generation macht da keinen großen Unterschied mehr. LOTHAR DE MAIZIÈRE Ich kriege die DDR nicht mehr aus dem Anzug geschüttelt, und das will ich auch nicht. Als die zu Ende ging, war ich 50. Ich kann doch nicht die längste Zeit meines Lebens negieren. Und ich bin auch nicht bereit zu sagen: Das ganze Leben war nur ein Jammertal. Es gab auch richtiges Leben im falschen Leben. Und trotzdem unterscheiden wir Ostdeutschen noch viel stärker zwischen dem Teil vor und dem Teil nach der Wende.

Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls läuft es in Thüringen auf einen Regierungschef der SED-Nachfolgepartei Die Linke hinaus. Können Sie das erklären?

Lothar de Maizière Die Union hat zuletzt in Thüringen nicht besonders glücklich regiert und dem Koalitionspartner SPD kaum einen Stich gelassen. Auch die SPD hat sich ungeschickt verhalten und zu einer beträchtlichen Verunsicherung ihrer Wähler beigetragen. Und Herr Ramelow tut relativ geschickt so, als hätte er überhaupt nichts mit der SED zu tun. Mir tut schon weh, dass ausgerechnet das lutherische Thüringen einen Ministerpräsidenten der Linken bekommen soll.

Empört Sie das?

Thomas de Maizière Ich finde es verheerend. Hinzu kommt: Die SPD begibt sich in die Rolle einer FDP oder der Grünen und damit die eines kleinen Mehrheitsbeschaffers. Indem sie eine solche Rolle annimmt, gibt sie ihren Führungsanspruch auf. Das halte ich für einen fundamentalen strategischen Fehler.

(RP)
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