Floskeln in der Politik Leeres Gerede als Strategie

Selten zuvor wurden die Menschen mit so vielen politischen Floskeln überschüttet wie zur Wahl in Bayern. Alles Sprach-Taktik, sagen Wissenschaftler. Doch ist es auch ein gefährliches Spiel mit der Wahrheit. Eine Analyse.

 CSU-Politiker Söder und Seehofer nach der Landtagswahl in Bayern.

CSU-Politiker Söder und Seehofer nach der Landtagswahl in Bayern.

Foto: dpa/Michael Kappeler

In Deutschland gibt es ein neues Gesellschaftsspiel, das auf den ersten Blick witzig ist, auf den zweiten nachdenklich stimmt und auf den dritten erschüttern kann: das „Bullshit-Bingo“. Gespielt wird es gerne vor und nach prekären Wahlen hierzulande (wie zuletzt in Bayern), bei denen all jene Phrasen von Politikerinnen und Politkern aufgelistet werden, die sie vor laufenden Kameras sprechen werden oder gesprochen haben. Die Trefferquote bei dieser Sprachspielerei ist hoch mit Phrasen wie: dass man jetzt erst einmal in Ruhe alle Zahlen analysieren müsse, dass Bayern Bayern bleibe und nicht nur München sei, dass man mit seinen Themen nicht bis zum Wähler vorgedrungen sei und zunächst einmal den Wahlhelfern vor Ort danken wolle; und überhaupt sei es nicht die richtige Zeit, Personaldebatten zu führen. So weit, so ungut.

Darüber kann man sich mokieren und darin auch ein paar Gründe sehen, warum traditionelle Parteien im Volk an Zustimmung verlieren und vielleicht mit ihrem Sprechen Politikverdrossenheit fördern. Das hieße aber auch, dass sich Menschen noch immer als politische Wesen verstehen und sich aus diesem Grund von Worthülsen distanzieren. Die Abkehr wäre dann ein politisches Zeichen. Jobst Paul, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung, zweifelt an dieser Motivation.

Weil nach seinen Worten viele Menschen weder die Zeit noch Interesse daran haben, sich mit Themen eingehender auseinanderzusetzen, können auch Phrasen gut funktionieren. Die Worthülse ist dann eine sprachpopulistische Strategie. In der Sprachwissenschaft nennt man floskelhafte Begriffe auch einen „Pool“, ein großes Sammelbecken eben, das leer angeboten wird und darum von den Menschen mit eigenen Vorstellungen und Deutungen gefüllt werden kann. In diesem Sprach-Pool kann sich jeder wohl fühlen.

Aus Sicht des Politikers – und auch in der Analyse der Wissenschaftler – ist das eine durchaus erfolgreiche Strategie. „Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen Phrasen der Politiker zustimmen, ist wesentlich höher als bei deutlichen Aussagen“, sagt Marcus Maurer, der politische Kommunikation an der Universität in Mainz lehrt. Wer also ein gerechtes Steuersystem fordere, findet viele Menschen hinter sich. „Sie erhöhen die Zustimmungsrate dramatisch“, so Maurer „wenn Sie etwas sehr Unkonkretes sagen.“ Außerdem: Wer sich auf Allgemeinplätze zurückziehe, könne später nicht widerlegt werden.

Das leere Gerede stellt niemanden vor größere Anforderungen. Es wird zum Grundrauschen eines Demokratievollzugs, der im Urnengang einen dramatischen Akt erfährt und hernach in der Politikersprache und der festen Inszenierung meist das Gefühl der Beständigkeit vermittelt: die Hochrechnung, der erste öffentliche Auftritt des jeweiligen Parteivorsitzenden – flankiert vom Kreis der engsten Gefolgsleute –, dann die Elefantenrunde und schließlich kleinere Scharmützel in den nächtlichen Talkshows. Auch diese Ritualisierung hinterlässt bei vielen den Eindruck: Eigentlich ist so viel ja doch nicht passiert.

Dabei muss die Phrase keineswegs Ausdruck einer Überforderung oder gar Einfallslosigkeit des Kandidaten sein. Vielen Politikern dient sie schlicht und einfach als Schutzmechanismus. Gerade im sensiblen Umfeld von Wahlen treffen das politische System und das Mediensystem „unglücklich aufeinander“. Die Medien wollen schnell eine gute Antwort bei zugleich extrem hoher Aufmerksamkeit. „Dann ist es natürlich nicht immer die vernünftigste Idee, mit einer vorschnellen Replik nach vorne zu preschen“, so Kramer.

Für dieses vermeintliche Fehlverhalten gibt es ein für alle Politiker abschreckendes Beispiel: Das war der Auftritt des damaligen SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz bei der vergangenen Bundestagswahl, als er rigoros verkündete, dass mit der SPD eine große Koalition nicht zu haben sei. „Ein auch rhetorisch fataler Fehler“, so Kramer. Die klare Aussage war nicht erst der Anfang vom Ende des Herausforderers, aber doch eine seiner letzten richtungsweisenden Aktionen. Für Kramer ist die SPD damit zum Gegenmodell eines politisch geschickten Verhaltens geworden. Und sie ist offenbar auch ein Lehrmeister für andere mit dem Ergebnis, dass das politische Sprechen „immer strategischer und kontrollierter wird; man ist sehr darauf bedacht, sich bloß nicht in die Nesseln zu setzen“.

Diese Vorsicht bewirkt zweierlei: Zum einen wird die politische Kommunikation nicht belebt, weil keine Probleme wirklich angesprochen werden. Zum anderen können die Politiker kein eigenes Profil mehr entwickeln.

Die Phrasendrescherei ist längst nicht mehr nur im Umfeld von Wahlen zu beobachten; wenn auch in Zeiten der politischen Machtkämpfe die Dichte der Floskeln besonders hoch und darum die Strategie auffällig ist. Doch vielleicht kommt im leeren Reden ein anderes Phänomen zum Vorschein, das der inzwischen 89-jährige US-amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt – er lehrte einst an der Princeton University – kurz und knapp „Bullshit“ nannte. Sein Büchlein mit gleichem Titel verkaufte sich fast eine halbe Million Mal und wurde in 20 Sprachen übersetzt.

Seine zentrale These: Im sogenannten Zeitalter des Postfaktischen ist eine Lüge keine Lüge mehr, da wir längst nicht mehr erkennen können, wie die Dinge in dieser Welt tatsächlich sind. Nach Frankfurt gibt es keinen zuverlässigen Zugang mehr zu einer „objektiven Realität“. Bullshit wird zum Freispruch unbekümmerter Phrasendrescher.

In einer Spielanleitung zum Bullshit-Bingo heißt es im Netz, dass es „nix zu gewinnen gibt“. Das stimmt. Außer, dass man zunehmend den Eindruck gewinnt, dass in der politischen Kultur des Landes einiges zu verlieren ist.

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