Piräus Die griechische Tragödie

Piräus · Nach acht Jahren Niedergang beginnt sich die griechische Wirtschaft zu erholen. Aber die meisten Menschen spüren von der Wende bisher nichts.

"Die Not nimmt nicht ab, sie wird immer größer", beobachtet Erwin Schrümpf. Geschickt steuert der Österreicher seinen Kleintransporter durch das Verkehrschaos der griechischen Hafenstadt Piräus. Bis unters Dach ist der Wagen vollgepackt mit Hilfsgütern: Medikamente, Babynahrung, Windeln, Verbandsmaterial, medizinische Geräte. Seit fünf Jahren versucht Schrümpf, mit seinem Verein Griechenlandhilfe die größte Not zu lindern. "Auf den ersten Blick pulsiert hier das Leben - aber das ist nur die Fassade", sagt er, als er den Transporter durch das Menschengewühl am Hafen lenkt. Hier legen die Schiffe ab nach Paros, Naxos, Santorin, Kreta und wie die Inseln alle heißen. Touristen ziehen mit ihren Rucksäcken und Rollkoffern zu den Anlegern. Wie es ein paar Meter weiter aussieht, wissen die unbeschwerten Urlauber nicht. Ein kleiner Park inmitten des Hafengeländes. "Hier leben sie", sagt Erwin Schrümpf. Ein Dutzend Menschen bevölkert die Grünanlage. Einige sitzen auf den Bänken, andere gehen ziellos umher. Sie sind obdachlos. 500 Schlafsäcke hat die Griechenlandhilfe an die Obdachlosen von Piräus bereits verteilt.

Immer mehr Menschen finden sich ein an diesem Freitagnachmittag. Sie kommen in der Hoffnung auf eine warme Mahlzeit. Am Rand des Parks rührt Myrto mit einem Holzlöffel in zwei großen Kochtöpfen. Einmal in der Woche baut die 22-jährige Studentin mit einigen Kommilitonen hier einen Gaskocher auf. Heute kochen die jungen Leute Huhn in Zitronensauce. Dazu gibt es Reis und grünen Salat. "Angefangen haben wir vor zwei Jahren, um die Flüchtlinge zu versorgen, die damals zu Tausenden am Hafen von Piräus gestrandet waren", erzählt Myrto. Die Flüchtlinge sind längst weg, sie leben jetzt in staatlichen Lagern am Stadtrand. Geblieben sind die griechischen Obdachlosen. "Und es werden immer mehr", beobachtet Erwin Schrümpf. "Für viele hier ist es die einzige warme Mahlzeit in der Woche."

Auch Makis ist hungrig. "32 Jahre bin ich zur See gefahren", erzählt der 61-Jährige, "zuletzt auf einer Fähre. 2013 ging die Reederei in Konkurs, seitdem bin ich arbeitslos." Als nach zwei Jahren die letzten Ersparnisse aufgebraucht waren, verlor Makis auch seine Wohnung. Jetzt lebt er als Obdachloser am Hafen. Seine wenigen Habseligkeiten hat er in einem Rucksack verstaut. In vier Jahren hofft er auf eine Rente. "Viel wird es nicht sein, vielleicht 400 Euro, aber das reicht hoffentlich für ein Dach über dem Kopf."

Mehr als ein Viertel seiner Wirtschaftskraft hat Griechenland seit Beginn der Krise 2009 verloren. Mehr als 150.000 kleine und mittlere Firmen gingen in Konkurs. Die Arbeitslosenquote stieg von sieben auf 27 Prozent. Arbeitslosengeld wird in Griechenland höchstens ein Jahr lang gezahlt, eine Grundsicherung wie Hartz IV gibt es nicht. Vom Verlust des Arbeitsplatzes ist es deshalb oft nur ein kleiner Schritt in die Armut und Obdachlosigkeit.

Glaubt man den Statistiken, hat Griechenland die Wende geschafft. 2017 wird die Wirtschaft wieder wachsen. Aber die meisten Menschen merken davon nichts. Hilfskredite von über 250 Milliarden Euro sind seit 2010 nach Griechenland geflossen. Sie dienten vor allem dazu, Altschulden zu refinanzieren und Banken zu retten. Bei der Bevölkerung ist von dem Geld nichts angekommen. In einer Umfrage äußerten jüngst zwei von drei Befragten die Sorge, dass sich ihre finanzielle Lage in den nächsten zwölf Monaten weiter verschlechtert.

"Die Menschen sind erschöpft und mutlos", sagt Erwin Schrümpf. 2012 gründete der Salzburger seinen Verein Griechenlandhilfe. "Den Anstoß gab eine Dokumentation über die haarsträubenden Zustände in den griechischen Spitälern, die ich damals in der ARD sah", erzählt Schrümpf. "Am nächsten Morgen habe ich begonnen, bei örtlichen Firmen um Sachspenden zu betteln - und war überrascht, wie spontan die Hilfsbereitschaft war." Wenig später gab der Kaufmann sein gut gehendes Geschäft mit EDV-Zubehör auf. Heute widmet er sich ganz der Griechenlandhilfe. Fast jeden Monat pendeln er und seine Mitarbeiter zwischen Österreich und Griechenland. Schwere Hilfsgüter werden per Lkw verfrachtet, leichtere Fracht, wie die Medikamente, kommen in Kleintransporter. Pro Jahr bringen Schrümpf und seine 40 ehrenamtlichen Mitarbeiter rund 100 Tonnen Hilfsgüter in das Krisenland.

Von Piräus steuert er Schrümpf seinen Ford Transit ans andere Ende Athens. Ziel ist eine kommunale Sozialambulanz im Stadtteil Dafni. Elena und Penelope erwarten den Transport bereits sehnsüchtig. Die beiden jungen Frauen leiten die Sozialstation, zu der auch eine Apotheke gehört, die kostenlos Arzneimittel an Bedürftige abgibt. "Wenn Erwin kommt, ist jedes Mal die Freude groß, denn dann füllen sich unsere Regale", sagt Penelope. Vier große Pakete mit Medikamenten hat Schrümpf diesmal mitgebracht - Spenden von Arzneimittelfirmen und Ärztemuster.

Die meisten Familien hier in Dafni gehörten früher zur Mittelschicht: Angestellte, Handwerker, Händler. "Aber diese Bevölkerungsschicht ist während der Krise fast komplett weggebrochen", erzählt Elena. "Heute gibt es fast in jeder Familie mindestens einen Arbeitslosen", weiß die junge Frau. "Viele schlagen sich mit Gelegenheits- oder Teilzeitjobs durch und können deshalb kaum Rentenansprüche erwerben - da tickt eine soziale Zeitbombe, die erst in einigen Jahrzehnten hochgehen wird."

"Die Krise hat viele gesunde Menschen krank gemacht", erzählt Elena. "Typisch sind Depressionen, Magengeschwüre, Bluthochdruck und Herzkrankheiten." Zugleich hat sich die medizinische Versorgung dramatisch verschlechtert. Unter dem Druck der Sparprogramme hat Griechenland die Ausgaben im Gesundheitswesen seit 2009 um fast ein Drittel gedrückt. In vielen Kliniken fehlt es wegen der ständigen Kürzungen im Gesundheitsetat sogar an ganz simplen Dingen. Auf der Liste der am dringendsten benötigten Hilfsgüter stehen bei der Griechenlandhilfe deshalb Artikel, die eigentlich zur rudimentären Grundausstattung jeder Klinik gehören sollten, in Griechenland aber Mangelware sind: Infusionsbestecke, OP-Instrumente, Blutzuckermessgeräte, Hygieneartikel und Desinfektionsmittel.

Wer in Griechenland beschäftigungslos ist, verliert nach einem Jahr nicht nur das Arbeitslosengeld sondern auch die Krankenversicherung für sich und seine Familie. "Etwa ein Drittel der griechischen Bevölkerung hat keinen Versicherungsschutz mehr", schätzt Penelope. Aber auch viele Versicherte können sich den hohen Eigenanteil teurer Medikamente nicht mehr leisten. Vor allem Rentner kommen deshalb in die Apotheke in Dafni.

"Ganze Familien leben von den Renten der Eltern und Großeltern", weiß Elena. "Aber irgendwann werden die Alten sterben ..." Dann droht auch jenen, die sich jetzt noch über Wasser halten, der Absturz. Eineinhalb Millionen Griechen leben bereits in Armut, so eine Studie der Forschungsorganisation Dianeosis. Es sind Menschen wie die 57-jährige Alexandra. Sie kommt fast täglich zur Armentafel der Kirchengemeinde Agia Varvara. 286 Euro Witwenrente erhält sie. "Das reicht gerade mal für die Miete und die Stromrechnung", sagt Alexandra. Heute gibt es Fasolakia, grüne Bohnen. Die Köchin Ioanna kocht hier ehrenamtlich. "Es macht mich froh, helfen zu können", sagt sie. "Etwa 70 bedürftige Menschen verköstigen wir hier jeden Tag", erzählt Pater Antonios. "Wir als Kirche helfen gern", sagt der Geistliche, "aber eine solche Armut sollte es in einem europäischen Land eigentlich nicht geben - hier hat die Politik versagt."

(RP)
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