Die Grenzen des Wissens

Mit der Diskussion um die Wikileaks-Enthüllungen ist unbegrenztes Wissen unter Verdacht geraten. Doch unsere Informationsgesellschaft lebt seit Jahrhunderten davon – wie eine neue Studie zeigt.

Düsseldorf Das Jahr 2010 hat uns eine erstaunliche Erkenntnis beschert: Seit den Enthüllungen diplomatischer Depeschen durch Wikileaks ist Wissen unter Verdacht geraten und muss sich neuerdings die Frage gefallen lassen, ob es wirklich wissenswert ist. Der vielstimmige Textberg, vor den uns Wikileaks nun stellt, gerät zur exegetischen Herausforderung.

Aus dem Wert des Wissens ist eine Gefahr durch Wissen geworden. Bedrohen diese oder jene Informationen aus dem Nahen Osten Menschenleben? Dienen sie der Aufklärung? Überschaubarer gedacht: Ist die Diagnose über Guido Westerwelles Fähigkeit von öffentlichem Interesse oder bloß eine Vertraulichkeit? Wir ahnen, dass es eindeutige Antworten darauf nicht geben kann – nur Einzelfallprüfungen.

Die nehmen dieser Tage in erster Linie die Medien vor. Ihr Berufsethos ist gefordert, ihr Verantwortungsbewusstsein gefragt, ihre Kompetenz notwendig. Die Freiheit unseres Wissenszugangs bedarf nun solcher Schleusen. Ihre Wärter sprechen von "schützenswerten Geheimnissen", wie Spiegel-Chefredakteur Mathias Müller von Blumencron, und von dem Respekt vor der Privatsphäre.

Wir beginnen, die Grenzen unseres Wissen zu formulieren, wo doch ein Augenblick vorher noch der freie Zugang zu Informationen als Motor der Gesellschaft und als Menschenrecht galt. Klammheimlich scheinen wir Abschied genommen zu haben von der Informationsgesellschaft, die ihren Zukunftsmut aus dem schöpfte, was denkbar ist. Die Gedanken sind frei – zu diesem Takt schlug bisher das Herz der westlichen Wissenswelt.

Und das ist keineswegs das Kennzeichen nur der Moderne. Das "Prinzip Wikileaks" des freien Daten- beziehungsweise Textzugangs ist ein altes Ansinnen und Wikileaks-Gründer Julian Assange darum ein Nachfolger großer Geister wie Martin Luther, der den Glaubens- und Wissensschatz der Bibel mit seiner deutschen Übersetzung 1521 mit einem Schlag vielen Menschen eröffnete.

In den Grundsätzen ihres Treibens sind die Hacker die Aufklärer von heute. Sie alle betreiben mehr oder weniger den Ausgang des Menschen "aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit", wie es Immanuel Kant formulierte. Und auch das Internet, gegeißelt als Hort der Anarchie, findet seine Entsprechung in einem ziemlich alten Informationsträger. Die deutsche Sprache konnte sich auch deshalb so opulent entfalten, weil sie seit dem Mittelalter nie unter der maßregelnden Knute einer staatlichen Macht stand. Ein Ergebnis dieser Entwicklungsfreiheit ist eine lexikalische Explosion: Von einst 300 000 Wörtern hat sie es bis heute auf über 4,5 Millionen gebracht.

Zu diesem fast anarchischen Medium der Sprache gesellt sich eine einzigartige Fähigkeit des Menschen hinzu: uneingeschränkt zu kooperieren. So wies Michael Tomasello, Anthropologe am Leipziger Max-Planck-Institut, jüngst in einer Studie nach, dass das altruistische Weitergeben von Informationen in uns evolutionär verwurzelt ist ("Warum wir kooperieren", Suhrkamp). Es zeigt sich sogar, bevor wir überhaupt zur Sprache fähig sind. So informieren Kinder andere schon im Alter von ungefähr zwölf Monaten uneigennützig durch Zeigegesten.

Letztlich ist dies das große und unter allen Lebewesen einizgartige Erfolgsrezept unserer Spezies. Indem wir anderen Individuen Informationen zur Verfügung stellen, setzen wir automatisch fundamentale Kooperationsprozesse in Gang, die einen "kulturellen Wagenhebereffekt" bewirken. Denn am Ende ziehen aus diesem Informations-Altruismus alle Beteiligten ihren Nutzen.

Unabhängig von der Bewertung über das Gebaren der Wikileaks-Betreiber: Die Freiheit der Information ist der Kern eines Betriebssystems, das die Menschheit auf hochentwickeltem Stand ins 21. Jahrhundert führte. Solche Unbegrenztheit wird nun subversiv genannt, der Informationsfluss als "stille Pest" bezeichnet und das Internet als Kampfzone im globalen Cyberspace. Vielleicht wird ausgerechnet das grenzenlose Internet neue, bislang unbekannte Grenzlinien der Information erforderlich machen. Wer schmunzelt eigentlich noch, wenn dieser Tage eine neue digitale Weltordnung prophezeit wird?

(Rheinische Post)
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