Analyse Die Entgrenzung der Welt

Düsseldorf · Gastbeitrag Viele Menschen fühlen sich angesichts der rasanten globale Veränderungen überfordert. Aber der Wandel ist zu meistern.

Wir leben im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung. Viele Menschen leben in Angst und Wut, weil sie sich vor den Zumutungen dieser epochalen Veränderungen fürchten. Erstmals in der Geschichte der Menschheit werden Grundbedingungen menschlichen Lebens ihrer Grenzen beraubt.

Der Raum menschlicher Existenz ist nicht nur durch die Eroberung des Weltraums entgrenzt. Der technische Fortschritt hat uns auch Einblick in die kleinsten Einheiten menschlichen Lebens und unserer Lebenswelt ermöglicht. Die durch Smartphones gesteuerte Völkerwanderung umfasst aktuell nach Aussagen der UN-Flüchtlingshilfe mehr als 60 Millionen Menschen, die ihre Heimat verlassen und Grenzen überschritten haben. Bis zu fünf Millionen Menschen warten in der Türkei, im Libanon, in Jordanien und im nördlichen Afrika auf neue Lebenschancen.

Der weltweite Terror hat zu einer Entgrenzung der Sicherheit geführt. Die digitale Überwachung des öffentlichen Raumes hat einen Verlust der Privatheit zur Folge. Fünf amerikanische Firmen haben ein Monopol auf die Nutzung des Großteils der Daten, die auf der Welt gesammelt und verarbeitet werden. Die gleichen Firmen verfügen über die meiste Kapazität der Hochleistungs-KI (Künstliche Intelligenz).

Die Aufhebung des Bankgeheimnisses, die disruptive Ökonomie, die Markenpiraterie haben die Regeln der Sozialen Marktwirtschaft stark verändert. Nicht der Produzent, sondern der Konsument und seine Daten sind wichtig. Nicht die Information, sondern die Zustimmung zur Information ist in Zukunft wichtig. Nichts ist mehr geheim. Immer mehr werden Verträge und Gesetze politisch infrage gestellt. Viele Menschen fühlen sich angesichts dieser fundamentalen Veränderungen überfordert. Sie suchen nach Sicherheit und fordern neue nationalstaatliche Grenzen. Sie wollen zurück in die gute alte Zeit. Im Internet findet der Austausch von individuellen Meinungsäußerungen statt und nicht der öffentliche Diskurs, der erst die Entstehung einer öffentlichen Meinung möglich macht.

Das "normative Projekt der westlichen Welt" ist geprägt von unverrückbaren Werten und Rechten. Zum inneren Kern dieses Projekts gehören die unveräußerlichen Menschen- und Bürgerrechte, der Rechtsstaat, d. h. auch die Trennung von gesetzgebender, vollziehender und rechtsprechender Gewalt und damit die Unabhängigkeit der Justiz. Weiterhin gehören dazu die repräsentative Demokratie und die Volkssouveränität.

Mancher glaubt, dass Demokratie, nationale Souveränität und wirtschaftliche Globalisierung sich widersprechen. Deshalb müssen sich die westlichen Staaten entscheiden, wenn sie die Globalisierung weiter vorantreiben wollen, entweder vom Nationalstaat, also der Verbindung von Nation und Staat, oder von der Demokratie Abschied zu nehmen.

Die europäische Antwort auf dieses Dilemma war bisher die Teilung der Souveränität zwischen der EU und den Mitgliedstaaten. Zusammen mit dem Wegfall der Binnengrenzen in Europa hat dies zu einer Teilung der Souveränität geführt. Eine andere Lösung gibt es nicht, weil sich gleichzeitig die Verbindung zwischen Nation und Staat auflöst, so wie wir seit dem 16. Jahrhundert eine Trennung von Staat und Religion als notwendige Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben der Völker akzeptiert haben. Auch in Zukunft wird es Nationen als freiwilligen Zusammenschluss von Menschen geben. Sie werden zusammenleben mit anderen Nationen in neuen staatlichen Strukturen. So wird es auch gelingen, als Zivilgesellschaft in Frieden und Freiheit in einer globalen Welt zu leben.

Das Gewaltmonopol des Staates wird mithin auf mehrere Ebenen staatlichen Handelns verteilt. Für Deutschland ist dadurch eine Vier-Ebenen-Demokratie entstanden mit der kommunalen Ebene, der föderalen Ebene der Bundesländer, der bundesstaatlichen Ebene und der europäischen Ebene. Das Gewaltmonopol des Staates kann durch eine solche Gewaltenteilung auch unter den Bedingungen der Globalisierung und Digitalisierung seine friedensstiftende Funktion behalten.

Dieses europäische Modell sieht sich in unseren Tagen mit großen Herausforderungen konfrontiert. Vor allem die Zuwanderung von Flüchtlingen hat zu politischen Kontroversen auf europäischer wie nationaler Ebene geführt. Der frühere Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio hat darauf hingewiesen, dass es "keine freie Gesellschaft, keine Demokratie ohne einen starken Rechtsstaat gibt." Dieser Satz gilt aber auch umgekehrt: Es gibt keinen starken Rechtsstaat ohne eine wehrhafte Demokratie. Alles andere wäre eine Willkürherrschaft.

Wir erleben, dass in verschiedenen westlichen Staaten Populisten versuchen, eine autoritäre Herrschaft zu errichten. Sowohl in Ungarn wie in Polen, Frankreich, der Türkei oder auch in den USA gab oder gibt es Versuche, eine Gegenrevolution gegen die Errungenschaften der französischen und amerikanischen Revolutionen durchzusetzen. Unter Berufung auf die Volkssouveränität und das demokratische Mehrheitsprinzip will man den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung abschaffen.

Zum Rechtsstaat gehört aber auch die Erkenntnis, dass Mehrheiten nicht alles dürfen, was sie wollen. "Macht muss bestimmten Legitimitätsanforderungen genügen", wie der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm gesagt hat. "In der Demokratie bildet das Volk die Quelle der Staatsgewalt." Staatliche Befugnisse können nur "auf der Grundlage und in den Grenzen der Verfassung ausgeübt werden." Die Aufgabe des Rechtsstaates in der Demokratie ist es deshalb, die Repräsentation des Volkes in den staatlichen Institutionen durch eine "pluralistische Öffentlichkeit" sowie "ein System persönlicher Freiheits- und politischer Teilhaberechte" sicherzustellen. Das erfordert aber mehr Demokratie, in Deutschland wie in Europa.

(RP)
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