Interview: Tonio Dell'olio "Die Bosse müssen sich Gott gewogen halten"

In Italien wird seit der Kritik des Papstes heftig über die Verquickung von Mafia und Kirche diskutiert.

Rom Papst Franziskus hat wie keiner seiner Vorgänger die Machenschaften des organisierten Verbrechens in Italien angeprangert. Zuletzt besuchte er eine Hochburg der Camorra, eines Arms der Mafia, um vor Hunderten Gläubigen eine Messe zu lesen. Die Anti-Mafia-Organisation Libera wurde von Priestern gegründet. Tonio Dell'Olio (54), Leiter ihrer internationalen Abteilung, spricht über jahrzehntealte Verbindungen von Mafia und Kirche.

Wie eng ist das Verhältnis von Kirche und Mafia in Süditalien?

Dell'Olio Das Verhältnis ist nicht immer explizit oder bewusst, sondern es ist meist von Traditionen geprägt. Prozessionen, in denen dem lokalen Mafia-Boss gehuldigt wird, gibt es seit Jahrzehnten. Sie wurden lange Zeit als völlig normal wahrgenommen.

Wie kommt das?

Dell'Olio Das Verhältnis zwischen Kirche und Mafia ist sehr alt und tief. Die Mafia muss sich immer wieder bei der Bevölkerung legitimieren. Dazu benutzt sie auch andere wichtige Mächte, wie etwa die Religion.

Welche Rolle haben die Priester bei diesem Verhältnis?

Dell'Olio Ich stelle oft eine große Unwissenheit bei den Priestern fest. Wenn etwa die Clans großzügig gegenüber der Kirche sind, Feste und Umzüge finanzieren oder etwas für die Kirchengemeine spenden, dann verlieren manche den Blick für die Wirklichkeit. In der Mentalität vieler Priester verhält es sich so, dass sie eher die Wohltätigkeit positiv bewerten als kritisch die Herkunft des Geldes zu hinterfragen.

Gibt es Allianzen zwischen Priestern und Bossen?

Dell'Olio Die Bosse wollen sich mit den geistlichen Autoritäten, die vor Ort oft sehr anerkannt sind, schmücken. Es gibt aber eher Fälle wie den des Cosa-Nostra-Bosses Pietro Aglieri, der selbst im Priesterseminar studiert hatte und als Flüchtiger täglich die Messe mit einem Geistlichen feierte. In Reggio Calabria wurde ein Mafioso eine Zeit lang in der Kirche versteckt. Ein anderer Priester schrieb einem Camorra-Boss ins Gefängnis und huldigte ihm.

Welche Wirkung hatte Papst Franziskus mit seiner Exkommunikation der Mafiosi?

Dell'Olio Ich denke, das war eher eine Provokation als ein wirklicher Ausschluss von den Sakramenten. Die Worte waren nicht nur an die Mafiosi gerichtet, sondern an alle Christen. Es ging darum, dass man das Böse nicht verehren kann.

Im Hochsicherheitsgefängnis von Larino begehrten jüngst Dutzende Bosse auf, weil sie nach der Papst-Rede nicht wussten, ob es noch Sinn hat, zur Messe zu gehen.

Dell'Olio Ich habe jahrelang als Seelsorger mit Mafiosi im Gefängnis gearbeitet. Ihnen ist die Teilnahme an der Messe extrem wichtig. Sie sind jetzt verunsichert.

Die 'Ndrangheta wird Santa (Heilige) genannt. Bei der Aufnahme neuer Mitglieder werden Heiligenbildchen verbrannt. Warum gibt sich die 'Ndrangheta als halbreligiöse Organisation?

Dell'Olio Das hat damit zu tun, dass Italien keine säkularisierte Gesellschaft hat. Die Religion hat bei uns immer noch eine privilegierte Funktion. Zweitens verbündet sich die Mafia mit anderen Mächten - der Politik, der Religion. Die Bosse müssen sich Gott irgendwie gewogen halten. Und drittens grenzt ihre Religiosität oft an Aberglauben, etwa wenn beim Initiationsritus das Bildchen vom Erzengel Michael verbrannt wird, dem Wächter über die Tore zur Hölle. Es ist kein Zufall, dass der Erzengel Michael gleichzeitig der Schutzheilige der italienischen Polizei ist. Auch die 'Ndrangheta will die höchste Macht für sich einnehmen.

(RP)
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