Jos Die Blutspur der Terror-Sekte

Jos · Die islamistische Gruppe Boko Haram wütet in Nigeria. Bedrückende Satellitenaufnahmen zeigen das Ausmaß des Gemetzels.

Seit ein paar Tagen versteht Ignatius Kaigama die Welt nicht mehr. Natürlich trauere auch er um die Toten in Paris, sagt der mutige Erzbischof von Jos, einer Stadt in Zentral-Nigeria, die direkt an der Schnittstelle von Christentum und Islam liegt. Und natürlich verstehe er auch die enorme Symbolik, die hinter den grauenvollen Anschlägen islamistischer Fanatiker auf eine Redaktion und einen jüdischen Supermarkt stecke. Dennoch ist der Kirchenmann über das enorme Desinteresse des Westens an den in ihrem Ausmaß noch grausameren Taten der Islamisten in seinem eigenen Land erschüttert.

"Dabei zeigen doch gerade die jüngsten Massaker von Boko Haram mehr als alles andere, welch konkrete Gefahr von diesen Islamisten ausgeht", klagt der Erzbischof. Nichts wünsche er sich angesichts der Massendemonstration gegen den islamistischen Terror in Paris mehr, als dass die Menschen im Westen auch Solidarität mit den Opfern in Nigeria übten.

Die jüngsten Anschläge der Terrorgruppe haben laut Menschenrechtlern ein neues Ausmaß der Gewalt und Zerstörung erreicht. Satellitenaufnahmen der eng benachbarten nord-nigerianischen Städte Baga und Doro Gowon seien der schockierende Beweis dafür, erklärte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International gestern. "Diese detaillierten Aufnahmen zeigen eine Verwüstung von katastrophalem Ausmaß", sagte der Amnesty-Nigeria-Experte Daniel Eyre. Mehr als 3700 Gebäude seien beschädigt oder zerstört worden.

Die Satellitenaufnahmen und die Aussagen von Überlebenden ließen darauf schließen, dass die Zahl der Getöteten weit höher liege als die von den nigerianischen Behörden angeführten 150. Ein Regierungsbeamter hatte direkt nach den Anschlägen vor einer Woche von bis zu 2000 Toten gesprochen.

Den Glauben an die eigene Regierung scheint Bischof Kaigama verloren zu haben. "Die Menschen vertrauen der Regierung nicht mehr. Die Soldaten des nigerianischen Militärs laufen einfach vor Boko Haram davon", erzählt auch der Journalist Muntaqu Ahiwa. Er besuchte gerade mehrere Wochen die Hauptstadt Yola des Bundesstaates Adamawa im Nordosten Nigerias. Bürgerwehren würden versuchen, die Dörfer zu schützen. Seit Monaten eskaliert die Gewalt in dem Land nicht zuletzt deshalb, weil sich der nigerianische Staat längst aus der Verantwortung für die Sicherheit seiner Bürger verabschiedet hat. Dem jüngsten Blutbad in der Garnisonsstadt Baga ging offenbar ein schlimmes Versagen der Armee voraus. Sie soll beim ersten Angriff der Islamisten auf ihre Kaserne die Flucht ergriffen und die Stadt mit ihren 10 000 Zivilisten damit schutzlos den Killern preisgegeben haben. Flüchtende seien aus dem Hinterhalt von den Terroristen erschossen worden. Für die Machthaber in der Hauptstadt Abuja scheint Boko Haram nur eines von vielen Problemen zu sein - und offenbar nicht einmal das drängendste. Dies liegt vielleicht auch daran, dass man sich dort eigentlich nie groß um den muslimischen Norden des Landes geschert hat, selbst als dort Muslime das Sagen hatten, was laut Verfassung in stetem Wechsel mit den Christen geschieht.

Symptomatisch dafür ist auch, dass Staatschef Goodluck Jonathan vergangene Woche zunächst das Attentat in Paris vollmundig verurteilte, ehe er sich weit später in dürren Worten zu dem noch viel blutigeren Massaker im eigenen Land äußerte, das zeitgleich geschah. Dabei hat das in seiner Dimension schier unfassbare Gemetzel der islamistischen Terrorsekte inzwischen selbst bei vielen Gesundbetern der Lage in Nigeria offenbar gewisse Zweifel an der Zukunft des Landes geweckt.

Die Regierung spielt die Dimensionen des Terrors herunter. Ähnlich dubios hatte sie bereits im April 2014 auf die Entführung von 230 Mädchen reagiert, die bis heute fast alle verschollen sind. Damals hatten sich die Machthaber wegen eines bevorstehenden Wirtschaftsgipfels aus Sorge vor Negativschlagzeilen fast drei Wochen lang in Schweigen gehüllt, ehe sie die Entführungen der Schülerinnen schließlich doch einräumten.

Ebenso wenig möchte die Regierung nun offenbar eingestehen, dass sie längst die Kontrolle über weite Teile des muslimischen Nordostens von Nigeria verloren hat. Dabei hat die Bedrohung durch Boko Haram mit der Einnahme von Baga eine ganz neue Dimension angenommen. Mit dem Verkehrsknotenpunkt kontrollieren die Islamisten nun fast den gesamten Nordosten des Landes, einschließlich der Grenzen zu Kamerun, Niger und Tschad, aber auch der Verkehrswege entlang der Sahelzone bis ins sudanesische Darfur.

Neben dem Massaker in Baga sorgte auch die Nachricht für Entsetzen, dass sich in den Städten Maiduguri und Potiskum am Wochenende drei junge Mädchen in die Luft sprengten und dabei offenbar mindestens zwei Dutzend Menschen mit in den Tod rissen. Das jüngste der Mädchen soll um die zehn Jahre alt gewesen sein. Vermutlich wurde die Sprengladung bei ihr per Fernzündung zur Explosion gebracht.

(RP)
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