Analyse Die Angst vor dem Familiennachzug

Berlin · Eine neue Debatte um den Familiennachzug ist entbrannt. Die Politik steht unter Zeitdruck, da ohne Gesetzesnovelle auch Flüchtlinge mit nur begrenzter Bleibeperspektive ab März ihre Angehörigen nachholen können.

Analyse: Die Angst vor dem Familiennachzug
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Noman Jalali weiß, was vermintes Gelände ist. Der junge Afghane hat die Gewalt der Taliban am eigenen Leib erfahren, die ständige Lebensgefahr. Und er hat die offenen deutschen Grenzen 2015 als glückliche Wendung seines Schicksals erlebt, in Wesel als minderjähriger Flüchtling eine neue Heimat gefunden - und nun die neun übrigen Mitglieder seiner Familie am Niederrhein in die Arme schließen können. Und wieder ist er dabei auf vermintes Gelände geraten, diesmal im übertragenen politischen Sinne.

Denn die AfD hat die gelungene Familienzusammenführung von Wesel als Beispiel angeführt, um davor zu warnen, "was Deutschland droht", wenn ab April nächsten Jahres auch rund 390.000 Syrer (die AfD schreibt die Nationalität in Anführungszeichen), das Recht auf Familiennachzug hätten. Zur Jahreswende ist das zum Politikum allerersten Ranges geworden. Weil Union und SPD bald mit Sondierungen über eine neue Koalition beginnen. Weil die Verständigungen zum Familiennachzug zwischen den Koalitionspartnern stets labil war. Und weil Handlungsdruck besteht: Schon in wenigen Wochen muss eine Gesetzesnovelle auf den Weg.

In ihrem gegenseitigen Misstrauen hatten sich Union und SPD 2016 nämlich nur auf einen Kompromiss in Form eines Übergangszeitraumes verständigt: Diejenigen, die nur eine begrenzte Bleibeperspektive haben, sollten für zwei Jahre von der privilegierten Familienzusammenführung ausgeschlossen sein. Ansonsten müssen rechtskräftig anerkannte Flüchtlinge und Asylbewerber nicht nachweisen, dass sie genügend Wohnraum und ausreichend Geld haben, um die engsten Familienangehörigen nachholen zu können. Bei Flüchtlingen mit sogenanntem "subsidiären Schutz" sollte das bis Mitte März 2018 ausgesetzt bleiben. Subsidiär Schutzbedürftige sind diejenigen, die sich weder auf Asyl- noch auf Fluchtgründe berufen können, die aber vorerst nicht zurück müssen, weil dies akut mit Gefahren für Leben und Gesundheit verbunden wäre.

Nun gibt es bei dieser Regelung zwei Lesarten. Die eine erinnert daran, dass die SPD Anfang 2016 von der Union hinter die Fichte geführt worden sei. Damals habe es zur Erläuterung geheißen, von dem versagten Familiennachzug sei ohnehin nur eine kleine dreistellige Zahl von Flüchtlingen betroffen. Tatsächlich schnellten die Bescheide von subsidiärem Schutz danach in die Höhe: Inzwischen dürften mindestens 150.000 syrische und irakische Flüchtlinge diesen Status haben. Alleine von Januar bis November zählte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 94.621 Bescheide mit subsidiärem Schutz (für alle Herkunftsländer).

Die andere Lesart verweist darauf, dass Deutschland im Herbst 2015 in Europa vorgeprescht sei, um auch jenen den Familiennachzug zu erleichtern, die eigentlich nur vorübergehend hier geduldet werden sollen. Mit dem Aussetzen der Privilegien für zwei Jahre sei die Koalition auf den europäischen Normalzustand zurückgekehrt. Und der müsse erhalten bleiben.

Doch schon die Jamaika-Sondierungen standen unter dem Zeichen des Automatismus: Kommt keine schnelle Einigung auf eine Fortsetzung der Ausnahmeregelung zustande, dürfen ab Mitte März alle subsidiär Schutzbedürftigen den Antrag auf Familiennachzug stellen. Das stärkte die Position der Grünen in den Verhandlungen. Offenbar will die SPD diese Rolle nun übernehmen und die Union noch eine Weile zappeln lassen, um möglicherweise Zugeständnisse an anderer Stelle zu erreichen. So erklärt sich, warum Politiker von CDU und CSU nun von einer großzügigeren Härtefallregelung sprechen. Ähnlich war die Erwartung auch für die Jamaika-Sondierungen. "Wir hätten uns auch bei der Familienzusammenführung mit den Grünen verständigen können", erläuterte CSU-Chef Horst Seehofer im Rückblick. Allerdings will die CSU unbedingt unter dem Strich die Zahl 200.000 sehen: ganz gleich, wie viele Flüchtlinge neu hinzukommen und wie viele Personen über die Familienzusammenführung nachkommen. Unter Abzug aller freiwillig zurückgekehrten und abgeschobenen Personen soll am Schluss diese Zahl von Migranten über Flucht und Asyl nicht überschritten werden.

Bei den Jamaika-Sondierungen gingen die Schätzungen über den Umfang des Familiennachzugs jedoch weit auseinander. Sie reichten von 50.000 im Jahr 2018 bis zu 750.000 in der nächsten Zeit. Das hatte damit zu tun, dass einmal Nachfragen unter Flüchtlingen zu der Prognose führten, unter den subsidiär Geschützten sei ein Nachzugfaktor von 0,4 je Syrer wahrscheinlich. Andere Rechnungen setzten bei dem langjährigen Erfahrungssatz von einem Nachzug je anerkanntem Flüchtling aus. Dieser wurde anschließend wieder nach unten gedrückt, weil das Auswärtige Amt über seine Dienststellen im Ausland den Familiennachzug steuert und seine Kapazitäten dafür begrenzt sind.

Für die AfD kommt die Nachzugsdebatte wie gerufen. Ihr starkes Abschneiden bei den Bundestagswahlen hatte auch damit zu tun, dass sich die Flüchtlingsdebatte auf dem Höhepunkt des Bundestagswahlkampfes wiederbelebte. Die AfD macht Politik mit anderen Zahlen, spricht von Millionen weiterer Menschen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und anderen Herkunftsstaaten, die nun über den Familiennachzug ins Land kämen. Der Fall von Noman Jalali mit eins plus neun passt in dieses Bild. Und er ist daneben doppelt problematisch. Einerseits mag Noman, inzwischen volljährig, nicht mit seiner Familie zusammen wohnen, zumal er vor ihnen zwei Jahre Integrations-Vorsprung habe. Andererseits ist er nicht der klassische Fall von Familiennachzug: Auch Vater und Geschwister wurden verfolgt und haben demnach einen eigenen Schutzanspruch.

(may-)
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