Analyse Die Angst um das politische Erbe

Düsseldorf · Winston Churchill, Otto von Bismarck, Konrad Adenauer und eben auch Helmut Kohl grollten und ätzten über ihre Nachfolger von kleinerem Format. Der verbale Unflat verdunkelt letztlich nicht die historischen Leistungen.

In der sonntäglichen TV-Runde bei Günther Jauch ging es um Helmut Kohl und dessen politisches Erbe sowie um Ewigmenschliches wie Neid, Rach- und Ruhmsucht und das Grapschen und Rangeln um den kleinen und großen Vorteil im Positionskampf beim Talk vor den Wenigen im Studio und den Millionen an den Bildschirmen daheim.

Als die Witwe des Kanzlers Willy Brandt (1969-1974) eine herrlich treffende Bemerkung über den Unterschied zwischen großen Alten wie Brandt oder Kanzler Helmut Kohl (1982-1998) und uns Normalsterblichen machte, fiel einem die Selbstcharakterisierung eines noch größeren Alten, Winston Churchill, ein: "Wir Menschen sind alle Würmer, aber ich bin ein Glühwurm." Brigitte Seebacher-Brandt hatte es mit spöttischem Seitenblick auf den Moderator so ausgedrückt: Große Staatsmänner hätten neben großen Stärken eben auch große Schwächen, im Gegensatz zu, "Verzeihen Sie, Herr Jauch, grauen Mäusen wie uns beiden". Das saß.

Dass Kohl ein großer deutscher und europäischer Staatsmann war, bestreiten heute nicht einmal mehr die Leute vom Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", das ihn jahrzehntelang als Provinztölpel verunstaltete und dessen Redakteure Kohl im Gegenzug öffentlich und in vertrauter Runde als miese Subjekte beleidigte. Wir sehen nicht erst seit Kohls nun bekannt gewordenen Ausfällen und verbalen Bösartigkeiten aus den Jahren 2001 und 2002, dass auch und gerade die Großen, wenn ihnen danach ist, mit ganz kleiner Münze zahlen und heimzahlen. Zu welchen Niveau-Unterschreitungen selbst Menschen von unbestritten historischem Rang in ihrem tief wurzelnden Hass fähig sind, konnte man beispielsweise beim erwähnten Winston Churchill erfahren, dem wohl größten Staatsmann des 20. Jahrhunderts. Man las es auch über den nach seinem erzwungenen Rücktritt 1890 auf Friedrichsruh verbittert grollenden und Ränke schmiedenden Reichskanzler Bismarck. Churchill giftete lustvoll über Nachfolger Clement Attlee, den er nun wirklich für einen "Wurm" und nicht wie sich selbst für einen "Glühwurm" hielt. Bismarck zog alle ihm üppig zu Gebote stehenden Spottregister gegen Nachfolger Leo von Caprivi. Vom ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer (1949-1963) ist verbürgt, dass er es nach seiner Demission an Giftpfeilen gegen Nachfolger Ludwig Erhard nie fehlen ließ. Als Erhard nach dreijähriger Kanzlerschaft angeschlagen aus dem Ring stieg, höhnte der berühmte Alte von Rhöndorf ihm hinterher: "Einer is wech." Adenauers Groll auf Erhard machte nicht einmal vor dessen Geschmack halt. Als Kanzler Erhard der Bonner Öffentlichkeit den Mitte der 60er Jahre hypermodernen neuen Kanzlerbungalow mit viel Glas und Alu präsentierte, ätzte Adenauer unnachahmlich rheinisch: "Ich glaub', dat Ding brennt nich mal."

Es scheint wirklich schwierig zu sein, die großen Alten, die eben nie "graue Mäuse" (Seebacher-Brandt) waren, mit normaler bürgerlicher Elle zu messen. Die Verstöße gegen menschlichen Anstand, die sie sich allesamt geleistet haben - bei Kohl waren auch Verstöße gegen das Parteiengesetz darunter -, trüben letztlich nur den Kurzsichtigen den Blick auf die historischen Leistungen. Die Geschichte misst mit anderer Elle als beispielsweise ein von Kohl als "Volkshochschulhirn" durch den Kakao gezogener Alt-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Für einen Egomanen wie Kohl, der so sentimental wie selbstherrlich, so bieder wie brutal wirken konnte, stellte sich die Situation 2001/2002, als die abwertenden Bemerkungen gegen Angela Merkel, Norbert Blüm, Rita Süssmuth, Christian Wulff fielen, so dar: Da hat ein Kanzler die historisch einmalige Gelegenheit 1989/1990 so geschickt wie beherzt als Marschall Vorwärts der Deutschlandpolitik genutzt; da hat jemand durch klug austarierte Diplomatie gegenüber tief misstrauischen Briten und Franzosen es geschafft, dass der Freiheitsdrang von 16 Millionen Landsleuten (darunter Angela Merkel) Wirklichkeit wurde und der Frieden im Haus Europa erhalten blieb - und dann stülpt man diesem Gestalter wegen zwei Millionen Euro nicht deklarierter Spendengelder an die Partei die Kriminellen-Kappe übers Haupt. Mehr noch: Manche, die ihren politischen Aufstieg oder ihr Überleben im Kabinett dem "Kanzler der Einheit" verdankten, führten gar das Messer gegen ihn, natürlich erst, als der Riese taumelte. Es muss schon jemand ein wahrer Menschenfreund sei, um solche Partei-"Freunde" schonend zu behandeln. Erst in der Not bewährt sich echte Kameradschaft. Als Kohl in selbst verschuldeten Nöten steckte, wechselten viele CDU-Karrieristen die Straßenseite, wo immer der Rechtsverletzer, der sein Ehrenwort über das Gesetz stellte, auftauchte.

Von Churchill stammt der wunderbar selbstbezogene Satz: "History will be kind to me, for I intend to write it" - "Die Geschichte wird es gut mit mir meinen, denn ich habe die Absicht, sie zu schreiben." Bismarck verfasste "Gedanken und Erinnerungen", die nur ihn ins helle Licht rückten. Und Kohl? Seine drei Erinnerungsbände oder das überarbeitete Buch "Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung" stellen das "Vermächtnis" des großen Alten dar und nicht der verbale Unflat im Oggersheimer Keller.

Es mag ja stimmen, dass Undankbarkeit gegenüber ihren großen Männern ein Zeichen selbstbewusster Völker ist; und dass viele gegenwärtig aufstöhnen, wenn ihnen zum wiederholten Mal die Story von Aufstieg und Sturz des Helmut Kohl aufgetischt wird. Was bleibt, ist die Faszination, die von einem wie Kohl ausgeht, auch wenn er nun mit spitzer Nase und starrem Blick überwiegend stumm in seinem Rollstuhl thront. Auch die, die ihm übel wollen, spüren: Hier ist jemand bei lebendigem Leib in die Geschichte eingetreten.

(RP)
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