Analyse Welche Zuwanderer wir brauchen

Berlin · Die große Koalition hat das Asylrecht erneuert und will nun Bleiberecht und Abschiebung anders regeln. Derweil ist Deutschland zum beliebten Einwanderungsland geworden, und die Politik hat einen Paradigmenwechsel vollzogen. Die Regierung hat erkannt, dass das System Deutschland ohne Zuwanderung nicht funktioniert.

 Angela Merkel besucht im Rahmen des Integrationsgipfels am 1. Dezember die Berliner Verkehrsbetriebe.

Angela Merkel besucht im Rahmen des Integrationsgipfels am 1. Dezember die Berliner Verkehrsbetriebe.

Foto: dpa, bvj fpt

Wir sind doch kein Einwanderungsland, so lautete lange Zeit die deutsche Grundüberzeugung. Seit die Arbeitskräfte in der Hochphase des Wirtschaftswunders knapp wurden und Deutschland gezielt um "Gastarbeiter" warb, wurden zwar Firmen, Städte und Straßen internationaler, bunter. Doch lange blieb es bei der Annahme, dass "Gäste" eher die zeitliche Ausnahme bleiben würden. Das hat sich radikal geändert. Deutschland ist zum zweitbeliebtesten Einwanderungsland der Welt geworden - und die Politik hat sich Schritt für Schritt darauf eingestellt.

Von einem "Paradigmenwechsel" spricht anerkennend sogar die Grünen-Migrationsexpertin Luise Amtsberg. Zwar habe die Union zu jedem Fortschritt gedrängt werden müssen, doch im Ergebnis sei man in den Jahren unionsgeführter Regierungen nun weitergekommen, als es Rot-Grün bis 2005 geschafft habe. Konkret: Asylbewerber dürfen sich nun freier im Land bewegen, können viel früher eine Arbeit aufnehmen, und sie müssen auch nicht mehr so lange warten, bis die Behörden geprüft haben, ob sich für einen bestimmten Arbeitsplatz nicht doch ein Deutscher oder EU-Bürger finden lässt, bevor der Asylbewerber zum Zuge kommt.

Innenminister Thomas de Maizière (CDU) will nun noch einen Schritt weiter gehen. Alle Ausländer, die zwar keine Anerkennung als politische Flüchtlinge gefunden haben, gleichwohl noch nicht wieder abgeschoben worden sind, sollen nicht länger zittern müssen, wenn sie sich und ihre Familien schon in die deutsche Gesellschaft integriert haben. Ausdrücklich will de Maizière diese positive Haltung gegenüber einer Zukunft in Deutschland honorieren und somit nach Schätzungen rund 10.000 bis 30.000 Menschen eine gesicherte Zukunft zwischen Alpen und Ostsee ermöglichen. Gleichwohl laufen Flüchtlingsinitiativen gegen das jetzt von der Regierung als Entwurf beschlossene Gesetz Sturm.

Denn im Gegenzug plant de Maizière, Personen, die diese Kriterien nicht erfüllen, leichter abzuschieben. Und da will er mit harter Hand vorgehen: Bei Terrorgefahren oder islamistischer Hetze soll künftig auch das Aufenthaltsrecht ziehen. In Computern und Handys von Ausländern, die die Behörden über ihre Identität täuschen, soll nach Hinweisen gefahndet werden können. Es soll Einreisesperren geben, wenn das Asylrecht missbraucht wurde. Zudem will de Maizière erreichen, dass ausreisepflichtige Ausländer in Abschiebungshaft genommen werden können, wenn die Gefahr besteht, dass sie untertauchen. Der Minister bezeichnet die "einladende und abweisende Botschaft" dieses Gesetzes als "Teil einer Gesamtstrategie".

Und die besagt, dass Deutschland ohne Zuwanderung qualifizierter Ausländer an seinen Demografieproblemen zugrunde geht. Nur Spitzenkräfte können eine Wirtschaft im globalisierten Wettbewerb in Schwung halten, und nur besetzte Arbeitsplätze zahlen in die Sozialversicherungssysteme ein. Bislang hat die Union streng getrennt zwischen der wirtschaftlich gewünschten Zuwanderung qualifizierter Arbeitnehmer und der grundgesetzlich gebotenen Aufnahme politisch Verfolgter. Diese Grenze ist mit der schnellen Arbeitsaufnahme durch aussichtsreiche Asylbewerber gefallen.

Nach Ansicht der Grünen sollte sogar das Gegenteil neue gemeinsame Überzeugung werden: Flüchtlinge grundsätzlich als großartige Chance für Deutschland zu begreifen. Deshalb geht Amtsberg die Asyl- und Flüchtlingspolitik längst nicht weit genug. Es reiche nicht aus, auf den furchtbaren Bürgerkrieg in Syrien mit der Aufstockung des Flüchtlingskontingents zu reagieren. Die Bundesregierung müsse auch in Integrations- und Deutschkurse für Syrer investieren, damit die vielen Tausend jungen Leute eine qualifizierte Ausbildung und eine Perspektive in Deutschland bekommen.

Nach anfänglichem Stotter-Start scheint zudem die der US-Greencard abgeguckte "Blaue Karte der EU" besser zu funktionieren. Mit dieser zunächst auf ein bis vier Jahre befristeten Aufenthaltsgenehmigung sollen besonders qualifizierte Ausländer an der Schlange der Einreise-Anwärter vorbeigeschleust werden. Sie müssen dazu Arbeitsverträge mit Unternehmen in Deutschland vorlegen, die ihnen im Jahr mindestens 47.600 Euro bringen, bei besonderen Mangelberufen wie Ingenieuren oder IT-Technikern reichen auch 37.128 Euro. Waren nach den ersten anderthalb Jahren nach Einführung gerade einmal 3000 qualifizierte Ausländer zusätzlich nach Deutschland gekommen, sind es nach jüngsten Zahlen inzwischen schon mehr als 19.500, davon fast 9000 in Mangelberufen. Sogar über 2500 ausländische Studenten bekamen derart lukrative Arbeitsangebote, dass sie per Blauer Karte in Deutschland bleiben konnten.

Sorgen bereitet de Maizière noch die Schieflage bei der Flüchtlingsaufnahme, an der sich die EU-Staaten sehr unterschiedlich beteiligen. Zum anderen hat sich in Nordafrika eine regelrechte Schleuser-Industrie gebildet, die Milliarden an Familien verdient, die alle Ersparnisse zusammenlegen, um einen Verwandten auf völlig überladenen Flüchtlingsschiffen nach Europa zu bringen. Ein Grund liegt darin, dass Europa legale Einreisewege weitestgehend versperrt hat. Auch die Grünen können sich deshalb grundsätzlich mit de Maizières Gedankenspielen anfreunden, in Afrika Anlaufstellen zu schaffen, in denen nach erster Prüfung aussichtsreichen Bewerbern die legale Einreise ermöglicht wird. Dies dürfe jedoch keinesfalls zu einer Aushebelung des Asylrechts führen, betont Amtsberg. Und für de Maizière lautet die Bedingung, dass diese legale Einreise die Zahl der Zuwanderer insgesamt nicht erhöhen darf, sondern die Zahl der illegalen Einreisen verringern muss.

(may-)
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