Zentralrat der Juden „Wir lassen uns aus unserer Heimat nicht verjagen“

Berlin · Der Zentralrat der Juden wird 70. Er entwickelte sich vom Nachlassverwalter des jüdischen Erbes zum Garanten neuer jüdischer Vielfalt in Deutschland.

 Rabbiner Chasan Aaron Malinsky zündet zum Chanukka-Fest 2017 in Düsseldorf die Kerzen am Menora an.

Rabbiner Chasan Aaron Malinsky zündet zum Chanukka-Fest 2017 in Düsseldorf die Kerzen am Menora an.

Foto: Christoph Reichwein (crei)/Reichwein, Christoph (crei)

Ob sich eine Sache bewährt, lässt sich oft auch daran ablesen, ob es als Beispiel Schule macht. Seit 1982 gibt es den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, seit 1994 den Zentralrat der Muslime in Deutschland. Deutlich größer und gewichtiger ist der Schrittmacher, der Zentralrat der Juden in Deutschland. Er feiert an diesem Dienstag sein 70-jähriges Bestehen unter anderem mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. Er ist aus dem politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Bundesrepublik nicht mehr wegzudenken.

Das war bei seiner Gründung alles andere als klar. Er sei „wenige Jahre nach dem Holocaust als Nachlassverwalter des jüdischen Erbes in Deutschland gegründet“ worden, erklärt die frühere Zentralratsvorsitzende Charlotte Knobloch, die seit 1985 Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern ist. Vor der NS-Terrorherrschaft lebten im Deutschen Reich rund 560.000 Juden. Nach der Shoah waren es in der jungen Bundesrepublik 15.000.

Juden und Deutschland. Das war nach dem Völkermord ein auch emotional schwieriges Verhältnis. Erst Recht galt das für Juden in Deutschland, ganz zu schweigen von Juden für Deutschland. Was der Zentralrat in 70 Jahren auf diesem Gebiet geschafft und geleistet hat, lässt sich beispielhaft an einem von der Öffentlichkeit nur am Rande wahrgenommenen Vorgang ablesen: Rabbiner stehen nun ganz offiziell an der Seite von Bundeswehrsoldaten, seitdem Zentralratsvorsitzender Josef Schuster und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer den Vertrag über die Militärseelsorge unterzeichneten.

Als bezeichnendes Signal wertet der langjährige Synodale der EKD und Beauftragte der Unionsfraktion für Kirchen und Religionsgemeinschaften, Hermann Gröhe, diesen Schritt. Damit markierten die Jüdinnen und Juden: „Dies ist unser Land.“ Es verweise darauf, dass auch durch das Wirken des Zentralrates nach dem Krieg jüdisches Leben in vielen Gemeinden sichtbarer und prägender geworden sei. Gröhe freut sich bereits auf die Eröffnung einer Synagoge im nächsten Jahr in Neuss.

Neben die Freude trete jedoch Entsetzen. Inzwischen sei der Antisemitismus „sichtbarer und unverschämter“ geworden, gebe es auch einen antisemitisch geprägten Israel-Hass auf linker Seite. Umso wichtiger sei die Verständigung. So waren nicht nur christliche, sondern auch muslimische Vertreter zu Gast, als in der vergangenen Woche in Potsdam fünf liberale Rabbinerinnen und Rabbiner ins Amt eingeführt wurden. Es war bereits der zehnte Abschlussjahrgang des dortigen Rabbinerseminars – die Zeiten, in denen die jüdischen Gemeinden Rabbiner aus dem Ausland hätten „importieren“ müssen, seien vorbei, unterstrich Schuster.

Für Gröhe ist der Zentralrat ein „wesentlicher Mahner zur Verteidigung des Grundgesetzes“. Er registriert Stimmungen und Entwicklungen sehr genau, macht unermüdlich auf bedenkliche, gar gefährliche Strömungen und Ereignisse aufmerksam. „Der Zentralrat hat in den vergangenen siebzig Jahren gezeigt, dass er sich anpassen und auf Herausforderungen reagieren kann“, lautet die Bewertung von Knobloch. Das sei heute, da Extremismus, Polarisierung und eben auch Judenhass wieder zunähmen, leider besonders nötig.

Wie vielfältig jüdisches Leben in Deutschland ist, lässt sich auch Schusters Terminkalender entnehmen. Ein weiterer Punkt der vergangenen Woche darin: Festakt zum 135-jährigen Bestehen der Jüdischen Gemeinde in Chemnitz. Das Judentum gehöre seit 1700 Jahren zu Deutschland, für sein Wiederaufblühen nach 1945 seien vor allem die Gemeinden vor Ort verantwortlich, erläuterte er in Chemnitz. „Juden haben dieses Land schon immer mitgeprägt, wir waren und sind ein Teil davon, und wir lassen uns aus unserer Heimat nicht verjagen“, hob der Vorsitzende hervor.

Manche bieten auch in Chemnitz Antisemiten die Stirn. Uwe Dziuballa etwa. Zusammen mit seinem Bruder kocht er koscher in seinem Restaurant „Schalom“. Inzwischen lässt er auch ein koscheres Bier brauen. Die Idee dahinter: „Wenn man merkt, dass das ganz normal schmeckt, denkt man vielleicht, dass die Juden auch ganz normale Menschen sind.“

Über Jahrzehnte stagnierte die Zahl jüdischer Gemeindemitglieder. Bis in die 1980er Jahre hinein blieben es weniger als 30.000 in 50 Gemeinden, in der DDR waren es 500 in fünf. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs setzte die Zuwanderung ein. Rund 200.000 machten sich aus den Ländern der zerfallenen Sowjetunion auf den Weg Richtung Westen. Die Integration wurde zu einer beispiellosen Herausforderung auch für den Zentralrat. Derzeit zählt er rund 100.000 Jüdinnen und Juden in 105 Gemeinden.

Zu Erfolg und Anerkennung haben nicht nur profilierte Persönlichkeiten an der Spitze wie Charlotte Knobloch, Ignatz Bubis, Paul Spiegel oder Josef Schuster beigetragen, sondern auch die breite Ausrichtung und Aufgeschlossenheit für das moderne Judentum. Der zwischenzeitliche Streit mit der Union progressiver Juden ist lange beigelegt. Damit stehe der Zentralrat nach den Worten von Knobloch für ein „beispiellos umfangreiches jüdisches Leben“, das er sowohl nach innen wie nach außen abbilde. Schuster bringt es auf eine einfache Formel: „Wir reden nicht um den heißen Brei, wir reden Tachles, schon immer.“ Und sicher auch am Dienstag zur Kanzlerin.

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