Flüchtlingskinder Wo sind die Mädchen?

Berlin · Die Koalition wollte vor allem unbegleitete Mädchen aus griechischen Flüchtlingslagern holen. Unter den ersten 47 Kindern waren 43 Jungen. SOS-Kinderdorf und Bundesminister Müller rufen nach mehr Hilfe für alle Kinder.

 04.05.2020, Griechenland, Athen: Ein Mädchen mit einem Mundschutz steht zwischen weiteren Migranten aus dem Lager Moria, die mit einem Schiff von der Insel Lesbos gekommen sind, im Hafen von Piräus bei Athen. Griechische Behörden verlegten etwa 400 Migranten, meist Familien, auf das Festland, um die Lage in dem überfüllten Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos zu entspannen. Foto: Angelos Tzortzinis/dpa/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

04.05.2020, Griechenland, Athen: Ein Mädchen mit einem Mundschutz steht zwischen weiteren Migranten aus dem Lager Moria, die mit einem Schiff von der Insel Lesbos gekommen sind, im Hafen von Piräus bei Athen. Griechische Behörden verlegten etwa 400 Migranten, meist Familien, auf das Festland, um die Lage in dem überfüllten Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos zu entspannen. Foto: Angelos Tzortzinis/dpa/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Foto: dpa

Der Satz ließ aufhorchen. Unter der Überschrift „Unterstützung für Griechenland und humanitäre Hilfe für die Region Idlib“ fassten die Spitzen von Union und SPD im Koalitionsausschuss am 8. März diesen Beschluss: „Deswegen wollen wir Griechenland bei der schwierigen humanitären Lage von etwa 1.000 bis 1.500 Kindern auf den griechischen Inseln unterstützen. Es handelt sich dabei um Kinder, die entweder wegen einer schweren Erkrankung dringend behandlungsbedürftig oder aber unbegleitet und jünger als 14 Jahre alt sind, die meisten davon Mädchen.“ Die meisten davon Mädchen?

Bekannt war, dass Familien in Kriegsländern ihre Söhne auf die Flucht nach Europa schicken, weil sie die Stärksten sind und damit die größten Chancen haben, sich durchzuschlagen. Aber Mädchen? Das war neu. Am 18. April trafen die ersten 42 Kinder und fünf Jugendlichen aus den dramatisch überfüllten griechischen Flüchtlingslagern auf den Ägäis-Inseln Samos, Chios und Lesbos in Hannover ein. Die meisten davon Jungen, genauer gesagt 43 Jungen und vier Mädchen. Wie kam es zu dieser Auswahl?

Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums sagte auf Anfrage: „Um einen einheitlichen Maßstab zu wahren, wurde die Aufgabe der Identifikation der in Betracht kommenden Personen und die nachfolgende Zuweisung auf aufnahmebereite Mitgliedstaaten unter anderem der Europäischen Kommission, dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR, der Gemeinschaftsagentur EASO sowie den zuständigen Behörden in Griechenland zugewiesen.“

In Koalitionskreisen heißt es, Deutschland habe keine Beamten vor Ort gehabt und sich vollständig auf die Dossiers vom UNHCR und den griechischen Behörden verlassen. Dass die meisten unbegleiteten Jugendlichen männlich seien und oft älter als 14 Jahre, sei keine Überraschung. Womöglich sei die Formulierung mit den Mädchen auch gewählt worden, um die Akzeptanz der Aufnahme zu erhöhen. Aus Regierungskreisen verlautete unterdessen, es werde noch der Frage nach Zwangsprostitution und Menschenhandel mit Mädchen nachgegangen. Das solle aber zunächst ohne öffentliche Aufmerksamkeit geschehen.

Das Bundesinnenministerium erklärte ferner, die Bundesregierung sei bestrebt, „möglichst zeitnah die Überstellung von weiteren minderjährigen Asylsuchenden entsprechend des Beschlusses des Koalitionsausschusses vom 8. März 2020 nach Deutschland zu ermöglichen“. Darin heißt es auch, Deutschland stehe im Rahmen einer „Koalition der Willigen“ innerhalb der EU bereit, einen „angemessenen Anteil“ der Kinder zu übernehmen. Diese Zahl wurde später mit etwa 350 angegeben.

Bundestagsunionsfraktionsvize Thorsten Frei (CDU) sagte unserer Redaktion, es müsse um die absoluten Härtefälle gehen. Alles andere würde die Aufnahmebereitschaft schwächen. „Zudem würden unterschiedslose Aufnahmen neue Migrationsanreize setzen. Nicht weniger, sondern mehr Jugendliche würden auf den gefährlichen Weg nach Europa geschickt, um dort als „Anker“ den Familiennachzug zu ermöglichen." Frei betonte: „Wir erwarten, dass auch die anderen europäischen Staaten ihre Zusagen einlösen. Vorher wird Deutschland keine weiteren Aufnahmen aus Griechenland durchführen.“

Eine Sprecherin der Hilfsorganisation SOS-Kinderdorf sagte dagegen unserer Redaktion, es müsse unter Hochdruck daran gearbeitet werden, zügig weitere Kinder aus den griechischen Lagern, in denen kinderrechtswidrige und akut kindeswohlgefährdende Zustände herrschten, herauszuholen. Die Aufnahme von 350 Jungen und Mädchen bleibe weit unter den deutschen Möglichkeiten. „Die Aufnahme von 47 Kindern war ein erster Schritt, aber eben auch ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Im Sinne der Kinder müsse jetzt sofort gehandelt werden. „Der Streit auf europäischer Ebene beziehungsweise zwischen Ländern der EU, wie eine gesamteuropäische Lösung aussehen könnte und welches Land wie viele unbegleitete Minderjährige aufnehmen kann und soll, darf nicht auf dem Rücken dieser Kinder ausgetragen werden.“ SOS-Kinderdorf könne bundesweit kurzfristig 50 bis 100 Unterbringungsplätze zur Verfügung stellen und bei Bedarf auch noch weitere Kapazitäten schaffen.

Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) mahnte: „Wir müssen allen Menschen in den Lagern helfen. Ich empfinde es als Schande, welche Zustände mitten in Europa akzeptiert werden.“ Nötig seien kleinere Einheiten mit menschenwürdigen Bedingungen nach UN-Standards, sagte er unserer Redaktion. Es müssten die unerträglichen Zustände für alle Flüchtlinge verbessert werden. „Mit der Evakuierung der Kinder ist das Problem ja nicht gelöst.“

(kd)
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