Debatte Wo beginnt eigentlich Rassismus?

Düsseldorf · Stereotype helfen, sich in einer komplexen Welt zurechtzufinden. Doch wer verdrängt, dass Gruppen nie homogen sind, es also etwa "die Flüchtlinge" nicht gibt, dessen Weltbild wird immer enger.

 „Wir stehen auf gegen Rassismus“ – Demonstration in Kandel im April 2018.

„Wir stehen auf gegen Rassismus“ – Demonstration in Kandel im April 2018.

Foto: dpa/Uli Deck

Nun ist so viel von Gruppen die Rede, von "den Muslimen", "den Flüchtlingen", "den Biodeutschen". Und das ist ja auch notwendig, wenn man in einer immer komplizierteren Welt gesellschaftliche Entwicklungen in den Blick nehmen will. Doch wenn es Probleme gibt zwischen diesen Gruppen, wenn sich Altkunden an einer Lebensmittel-Ausgabe bedrängt fühlen von "den Migranten" oder wenn in Berlin arabisch sprechende junge Männer auf Gleichaltrige losgehen, weil die eine jüdische Kippa tragen, dann ist da diese Schwierigkeit: Probleme müssen benannt werden, um sie anzugehen. Doch wer sie Gruppen zuschreibt, findet sich bald im Feld der Verallgemeinerungen und Stereotype wieder. Laden die sich emotional auf, etwa weil Vorfälle sich häufen, entstehen Vorurteile. Dann reden die einen vom "importierten Antisemitismus", den "die Flüchtlinge" ins Land gebracht hätten, während die anderen auf Polizeistatistiken pochen und antisemitische Straftaten nur bei Rechten angesiedelt wissen wollen. Dabei gibt es natürlich beides. Beides müsste diskutiert werden, ohne zu diffamieren, ohne zu relativieren, ohne sich in Einzelfällen zu verheddern. Wie also denken, reden, sprechen über solche Themen?

Notieren, was man sieht

"Die Schublade immer ein bisschen offen lassen", rät Alexander Reeb, interkultureller Trainer und Leiter eines Seminaranbieters mit Sitz in Göttingen. Stereotype seien durchaus nützlich, um sich in einer komplexen Welt zu orientieren. Doch sollte man Gruppen nie für homogen halten, sondern sich bewusst machen, dass Menschen auch innerhalb einer Gruppe unterschiedlich sind. "Sonst hindern einen bestimmte Erlebnisse daran wahrzunehmen, dass man mit anderen Vertretern einer Gruppe auch ganz andere Erfahrungen machen kann", so Reeb. Das sogenannte Weltbild werde dann immer enger.

In seinen Seminaren macht Reeb ein einfaches Spiel: Er fordert die Kursteilnehmer auf, aus dem Fenster zu schauen und zu notieren, was sie sehen. Vergleichen sie nach ein paar Minuten ihre Notizen, haben sie höchst unterschiedliche Beobachtungen gemacht. "Das zeigt, wie unterschiedlich wir Menschen denken und wahrnehmen", sagt Reeb. Wer jedoch von "den Ausländern" oder "den AfD-Wählern" als homogener Gruppe ausgehe, gestehe den Menschen in dieser Gruppe Unterschiede nicht mehr zu.

Wenn dann noch Machtgefälle ins Spiel kommen, wenn ein Lehrer, ein Polizist oder ein Wohnungsmakler in einer konkreten Person alle anderen erblickt, die ähnlich aussehen und denen er negative Eigenschaften unterstellt, wird aus Vereinfachung Diskriminierung. Der Einzelne wird dann etikettiert, er kann nicht mehr für sich selbst stehen, sondern wird nur noch als Vertreter einer Gruppe behandelt, der dies und das zugeschrieben wird. Dann werden Menschen mit dunkler Hautfarbe eben häufiger gefilzt. Kinder aus Hartz-IV-Familien zur Hauptschule geschickt. Oder Flüchtlinge bekommen keine Wohnung.

Mit alltäglichem Rassismus kennt Mohamed Amjahid sich aus. Er ist in Deutschland und Marokko aufgewachsen, lebt heute als Journalist in Hamburg und Berlin und hat ein Buch darüber geschrieben, wie es ist, wenn man nach seinem Aussehen und der vermuteten kulturellen Zugehörigkeit behandelt wird, wie es also ist "unter Weißen" - so der Titel seines Buchs. Darin beschreibt er, wie Leute plötzlich ihre Handtasche umklammern, wenn er sich in der Bahn neben sie setzt. Oder was passiert, als er in einer Drogerie zu viel gezahltes Wechselgeld zurückgibt: "Von Leuten wie Ihnen hätte ich das nie erwartet", sagt der Kassierer.

"Rassismus ist eine Methode, sich über andere zu erheben, um sich besser zu fühlen. Dieses Verhalten wird erlernt", so Amjahid, "das sage ich auch, um mir nicht die Hoffnung zu nehmen, dass man rassistisches Denken überwinden kann, obwohl es oft tief in Menschen verankert ist." Seine Eltern hatten diese Hoffnung irgendwann nicht mehr. Sie waren in den 60er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Der Vater hatte in Frankfurt am Fließband gearbeitet, die Mutter in Teilzeit als Reinigungskraft. Doch als gleichwertig anerkannt fühlten sie sich nie. Darum entschieden sie sich 30 Jahre später, nach Marokko zurückzukehren. Mohamed Amjahid war damals sieben Jahre alt, erst zum Studium ging er wieder nach Deutschland und erlebt nun, wie sich nach Ereignissen wie der Kölner Silvesternacht die Wahrnehmung verändert hat. Wie etwa junge Marokkaner nur noch als "die Anderen" gesehen werden. "Viele Menschen, die nie Diskriminierung erfahren müssen, spüren gar nicht, wie privilegiert sie sind", sagt Amjahid. Wenn man sich aber selbst hinterfrage, offen dafür sei, eigene Vorurteile zu erkennen, sei das schon "die halbe Miete".

Bedürfnis nach Vereinfachung

Doch in Zeiten, die viele Menschen als unüberschaubar empfinden, wächst das Bedürfnis nach Vereinfachung - und Vereindeutigung. Das scheint die Hemmschwelle beim Beurteilen zu senken. Dann erwischt man sich bei dem Gedanken, dass der Taxifahrer, der einen gerade geschnitten hat, schon wieder "so ein südländischer Typ war", der deutsche Verkehrsregeln "wohl für eine Beschränkung seiner Männlichkeit hält". Ist man Rassist, wenn man so etwas denkt? Oder erst, wenn man es sagt? Oder es öffentlich äußert?

Alexander Reeb sieht das entspannt. "Die Gedanken sind frei", sagt er. Und natürlich verursachten Männer in einem bestimmten Alter häufiger Unfälle, da müsse man nur Versicherungen fragen. "Allerdings kann die Zuordnung solchen Verhaltens zu einer Gruppe wie 'südländischer Typ' verhindern, dass man andere Fahrer dieses Typs wahrnimmt, die brav und langsam fahren", sagt Reeb. Die Realität ist verwirrend. Darum helfen Stereotype - solange wir ihnen misstrauen.

(dok)
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