Vizekanzler Westerwelle im Interview "Wir wollen die Mittelschicht entlasten"

Berlin (RPO). Außenminister und Vizekanzler Guido Westerwelle (FDP) verspricht im Interview mit unserer Redaktion Steuerentlastungen für die mittleren Einkommen, sieht Fortschritte der Türkei auf dem Weg nach Europa und kritisiert die ersten Entscheidungen von Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen. Und dann klärt er die Frage, ob Widersacher Horst Seehofer (CSU) eigentlich ein rationaler Politiker ist.

Westerwelle darf Kabinettssitzung leiten
6 Bilder

Westerwelle darf Kabinettssitzung leiten

6 Bilder

Herr Vizekanzler, was vermisst ein Rheinländer in Berlin?

Westerwelle Er vermisst in Berlin gelegentlich diese große Offenheit, die wohl das rheinische Reizklima bei den Menschen bewirkt. Der Rheinländer tritt mit Herzlichkeit auch völlig unbekannten Menschen gegenüber. Das preußische Berlin ist sehr schön, aber deutlich verschlossener.

Wie lange geben Sie der rot-grünen Minderheitsregierung in NRW?

Man hätte eine rot-rot-grüne Kooperation durch eine Ampelkoalition in NRW verhindern können. Hat sie auf Landes- oder auch Bundesebene eine Perspektive?

Westerwelle Ich bin ein Anhänger bürgerlicher Mehrheiten. Wenn ich das schöne Düsseldorf ansehe, das über ein Jahrzehnt von Schwarz-Gelb regiert worden ist, dann sehe ich hier, dass es keine Schulden gibt, die Wirtschaft wächst und in Kultur, Bildung und Sport investiert werden kann.

Duzen Sie CSU-Chef Horst Seehofer eigentlich noch nach all dem Koalitionsstreit in Berlin?

Westerwelle Ja. Ich habe doch eben etwas über den Rheinländer gesagt: Er ist offen und herzlich.

Ist Seehofer ein rationaler Politiker?

Westerwelle Ich kann dieses Psychologisieren nicht gut leiden, und ich tue es auch keinem anderen an. Ich habe meine Probleme damit, wenn Beobachter aus Ereignissen, die möglicherweise auch noch in frühester Kindheit lagen, heutige politische Entscheidungen erklären wollen.

Hat Ihr jüngster Besuch in der Türkei Ihre Haltung zu deren EU-Beitritt verändert?

Westerwelle Deutschland steht zu seinen Zusagen — deshalb gelten wir weltweit als außerordentlich zuverlässig, nicht nur in der Wirtschaft. Wir führen ergebnisoffene Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, das Ergebnis dieser Verhandlungen ist heute noch nicht vorhersehbar.

Ist es ein strategisch sinnvolles Ziel, dass am Ende dieses Prozesses ein Beitritt der Türkei zur EU steht?

Westerwelle Deutschland hat ein großes Interesse an einer Türkei, die an der Seite und auf der Seite Europas steht. Ob wir Afghanistan nehmen, Iran oder Nahost — jedes Mal kann die Türkei eine Brücke für Lösungen sein. Die Türkei hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht, wirtschaftlich und politisch, übrigens auch, was ihre eigene demokratische Entwicklung angeht.

Wird es, wie von der Koalition versprochen, noch in dieser Wahlperiode Steuersenkungen geben?

Westerwelle Die Euro-Krise hat uns gelehrt, dass wir jetzt zunächst die Haushalte konsolidieren müssen. Aber das große Ziel einer Steuerreform ist deshalb nicht abgesagt, sondern es bleibt unser Ziel. Wir wollen insbesondere die Mittelschicht weiter entlasten, so wie wir bereits die Familien und den Mittelstand zu Beginn des Jahres entlastet haben. Die gute Wirtschaftsentwicklung und die sehr gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt haben auch etwas mit diesen Entscheidungen der Bundesregierung zu tun.

Sind Sie für einen "Tarif auf Rädern", also die Kopplung des Einkommensteuer-Tarifs an die Inflation?

Westerwelle Ich fand das immer eine interessante Idee. Die kalte Progression und insbesondere den Mittelstandsbauch im Tarif zu reduzieren, ist ein wichtiges Anliegen dieser Regierung. Jede dieser interessanten Ideen müssen wir prüfen. Wir müssen auch sehen, dass wir hinterher weniger Bürokratie haben.

Wie wollen Sie das Steuersystem vereinfachen?

Westerwelle Das packen wir zügig an. Die Steuererklärung soll verbraucherfreundlicher werden: Zum Beispiel wird es eine vorausgefüllte Steuererklärung geben, mehr Pauschalierungen, also weniger Belegesammeln. Diese Vereinfachungen sollen möglichst rückwirkend zum 1. Januar 2010 kommen.

Wäre es sinnvoll, wenn die Hartz-IV-Sätze für Erwachsene infolge der Neuberechnung im nächsten Jahr steigen?

Westerwelle Ich bin und bleibe ein Anhänger des Lohnabstandsgebotes: Es muss so sein, dass derjenige, der arbeitet, auch ganz persönlich davon etwas hat und sich seine Arbeit wirklich lohnt. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass die Hilfe für Kinder von Hartz-IV-Beziehern wirklich in Form von Bildungschancen bei diesen Kindern ankommt.

Die FDP ist seit der Bundestagswahl in Umfragen um etwa zehn Prozentpunkte abgestürzt. Wie erklären Sie sich das?

Westerwelle Das hat was mit den Nebengeräuschen in der Regierung zu Anfang zu tun, aber noch mehr mit einigen sehr unpopulären Entscheidungen, die wir treffen mussten. Aber die waren notwendig und deshalb richtig.

Welche Entscheidungen meinen Sie?

Westerwelle Der Euro-Rettungsschirm hat uns nicht beliebt gemacht, aber er war unerlässlich. Unsere Vorgänger haben gerne die Spendierhosen angezogen, und so sehen die Staatsfinanzen nun ja auch aus. Wer regiert und Ausgaben kürzt, wird dafür auch massiv kritisiert.

Andere Außenminister lagen in den Beliebtheits-Rankings der Politiker immer ganz vorn. Das ist bei Ihnen nicht der Fall. Wie konnte das passieren?

Westerwelle Niemand freut sich darüber, wenn er etwas abkriegt. Aber warten wir mal ab, wie es ist, wenn die Bürger mehr Zeit gehabt haben, sich ein Bild über unsere und meine Arbeit zu machen. Im Übrigen habe ich, was Umfragen angeht, schon fast alles erlebt, aber die Wahlergebnisse haben in aller Regel gestimmt.

Werden Sie das Amt des Parteivorsitzes abgeben, um sich voll auf Ihren Job als Außenminister konzentrieren zu können?

Westerwelle Solche Überlegungen wurden in der letzten Klausur des FDP-Bundesvorstands nicht angestellt.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort