Semiya Simsek - Tochter von NSU-Ermordetem "Wir durften nicht einmal Opfer sein"

Berlin · Es sind nur wenige Minuten, die Semiya Simsek an diesem Mittwochvormittag hat. Wenige Minuten, um der Welt zu erklären, wer ihr Vater war - das erste Mordopfer der Zwickauer Neonazi-Zelle. "Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein", sagte die 25-Jährige auf der zentralen Gedenkfeier in Berlin.

Deutschland gedenkt der Neonazi-Opfer
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Sie wirkt entschlossen, als sie an das Rednerpult in der Konzerthalle am Gendarmenmarkt tritt. Kraftvoll sind ihre Worte, und sie hinterlassen ein schweigendes Publikum. Semiya Simsek hat ihren Vater verloren, mit 14 Jahren. "Das alte Leben gab es nicht mehr. Mein Vater war tot, er wurde nur 38 Jahre alt", sagt sie über Enver Simsek, den Blumenhändler mit den großen Träumen.

Die 25-Jährige erinnert daran, dass die Familien der Opfer über Jahre hinweg von Polizei und Justiz als Verdächtige angesehen wurden. Und sie mahnt: "In unserem Land, in meinem Land muss sich jeder frei entfalten können." Jeder Einzelne sei gefordert, um gegen Fremdenfeindlichkeit einzutreten. "Lasst uns nicht die Augen verschließen und so tun, als hätten wir dieses Ziel schon erreicht", so Simsek.

Es sind Worte voller Ermutigung, aber auch voller Bitterkeit, als sie über die falschen Verdächtigungen gegen ihren Vater, ihre Familie spricht. Nein, die Taten des Neonzai-Trios seien kein Grund, Deutschland zu verlassen, sagt sie. Und doch wird Semiya Simsek genau das tun. Sie geht in die Heimat ihres Vaters, in die Türkei, wie sie in mehreren Interviews verrät.

Mit acht Kugeln niedergestreckt

Enver Simsek kam aus der Region Isparta, hütete dort Schafe. Als er sich verliebte, ging er für seine Frau nach Deutschland, wie mehrere Medien berichten. Er baute einen Blumenhandel auf, kaufte die Blumen in Holland ein. Am 9. September des Jahres 2000 aber vertrat er einen Mitarbeiter in Nürnberg. Wie der "Tagesspiegel" schreibt, stellte er einen Tisch mit Blumen auf, kurz darauf wird er von acht Kugeln aus einer Pistole getroffen. Zwei Tage später stirbt er im Krankenhaus.

Für die Familie beginnt in diesen Minuten nicht nur die Trauer, sondern auch die Tage der Verzweifelung. Denn die Polizei verdächtigte die Ehefrau und deren Bruder, Enver Simsek ermordet zu haben. Auch als Drogenhändler wurde der Familienvater verdächtigt, weil er in Holland seine Blumen einkaufte.

Seine Tochter, damals 14, erinnert sich noch genau an jenen Moment, als sie allein ins Krankenhaus gin, um ihren im Sterben liegenden Vater zu sehen. "Dann kam mir schon ein Beamter entgegen, der hat mir dann die ersten Fragen gestellt, ob er eine Waffe dabei hatte, ob wir bedroht worden", erzählt sie im Deutschlandfunk. "Wir waren eh schon Opfer, meine Mama hat ihren Ehemann verloren, wir haben unseren Vater verloren, dann wirst du noch so misstrauisch betrachtet. Das war echt nicht schön."

"Man hat uns vorgeworfen, wir würden schweigen, weil wir Türken sind", erzählt die Erzieherin gegenüber dem "Tagesspiegel". "Man hat uns auch nicht geglaubt, weil wir Türken sind." Dieses Misstrauen habe sich auch in der Familie verankert und den Zusammenhalt zu einem großen Teil kaputt gemacht. Sogar Bilder von einer angeblichen Geliebten, mit der ihr Vater zwei Kinder hätte, werden der Mutter von der Polizei gezeigt, heißt es in dem Bericht weiter. Ein Bluff, wie sich herausstellt, als die Mutter sich nicht irritieren lässt.

Die Mutter wurde krank

Es sind Erfahrungen, die weder Mutter noch Tochter je wieder los werden. "Bis heute habe ich seinen Tod nicht verkraftet", sagt die junge Frau der Berliner "BZ". "Meine Mutter hat seitdem keinen Weg zurück ins Leben gefunden." Und im Deutschlandfunk sagte sie: "Sie ist dadurch krank geworden, natürlich, sie hat psychische Störungen (...) sie ist meistens bei ihren Eltern in der Türkei."

Türkei, dieses Land, wo der Vater seinen Lebensabend verbringen wollte und ein Haus dafür baute. Dorthin zieht es nun auch Semiya Simsek. Sie wolle es eine Zeit versuchen, brauche eine Wende, sagte sie dem "Tagesspiegel". Einen Hass auf Deutschland, so die 25-Jährige gegenüber der "BZ", verspüre sie aber nicht.

Dass sie zuvor noch auf der zentralen Trauerfeier sprechen würde, klingt fast wie eine Selbstverständlichkeit für sie. "Weil ich denke, ich bin das meinem Vater irgendwo schuldig", so die junge Frau gegenüber dem "Deutschlandfunk". "Wir müssen ja als Familien etwas tun, damit sich etwas ändert."

"Zum ersten Mal kann ich die ganze Welt erreichen", erklärte sie im Vorfeld gegenüber dem "Spiegel". "Es bringt nichts, wenn wir uns in die Ecke stellen. Einer muss die Kraft haben, Impulse zu setzen." Diese Stärke hat Semiya Simsek an diesem Mittwoch gezeigt. Und sie hat ein Zeichen gesetzt, ein Zeichen dafür, nicht wegzusehen bei Fremdenhass und sich für andere einzusetzen.

(das)
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