Ein Buch zum 100. Geburtstag Willy Brandt aus der Nähe beobachtet

Berlin · Zum 100. Geburtstag enthüllt sein Freund Egon Bahr Charakter und Seelenleben des SPD-Idols. Der Preis der Macht war hoch.

 Weggefährten in einer Aufnahme vom Februar 1979: SPD-Bundesgeschäftsführer Egon Bahr (r.) informiert Bundeskanzler Willy Brandt im Park des "Hospital Leon Berard" über die politische Situation in Bonn.

Weggefährten in einer Aufnahme vom Februar 1979: SPD-Bundesgeschäftsführer Egon Bahr (r.) informiert Bundeskanzler Willy Brandt im Park des "Hospital Leon Berard" über die politische Situation in Bonn.

Foto: dpa, Fritz Fischer

Willy Brandt, der erste SPD-Kanzler der Bundesrepublik, von Millionen Deutschen geliebt, von vielen Zeitgenossen verachtet, ist unzweifelhaft eine geschichtsprägende Persönlichkeit. Doch er war auch ein von Selbstzweifeln zerrissener Mensch, der mehrfach alles hinwerfen wollte.

Eindringlich und authentisch schildert dies nun derjenige, den Brandt 1992 auf dem Sterbebett als einzigen einen Freund nannte: Egon Bahr. Der Architekt von Brandts spektakulärer Ostpolitik, hat angesichts des im Dezember anstehenden 100. Geburtstags des SPD-Idols ein dichtes, stellenweise spannendes Buch mit Erinnerungen an Brandt vorgelegt.

Bahr war immer mittendrin

Das Geheimnis habe darin gelegen, dass man seine Nähe nur habe gewinnen können, wenn man ihm nicht zu nahe gekommen sei, hält Bahr über Brandt eingangs fest. Wie nah der Freund dem Freund war, wie sehr der spätere Friedensnobelpreisträger seinem engsten Berater vertraute, lässt sich nicht nur erahnen: Bahr spielte den Briefträger, als Brandt seine Verhältnisse zwischen seiner Freundin Brigitte Seebacher und seiner Frau Rut ordnen wollte.

Und Bahr war immer mittendrin, wenn Brandt alles zu viel wurde. Nach der verlorenen Bundestagswahl 1965 habe er "ernstlich erwogen", mit seiner Frau zurück nach Norwegen zu gehen, wo er 1933 bis 1945 im Exil gelebt hatte. Bahr schildert Brandts "Verletzlichkeit" als Stärke: Das hätten die Menschen gespürt, die ihn dafür bewundert und geliebt hätten.

"Wir benahmen uns wie älter gewordene Jungs"

Wie hoch der Preis der Macht war, schildert Bahr aus permanenter Nahbeobachtung. "Rut rief weinend an", beginnt das Kapitel über Brandts Krise von 1972. Der Kanzler habe im "abgedunkelten Schlafzimmer" geklagt: "Ich habe keine Lust mehr."

Viele Details drehen sich darum, wie die damals Mächtigen mit dem Druck umgingen, wie sich Brandt und Bahr in ihrer Berliner Zeit (Bahr war Pressechef des Regierenden Bürgermeisters Brandt) einfach mal eine einwöchige Auszeit in Tunesien gönnten, wie sich "Willy" bei einem Strandspaziergang plötzlich auszog und "wie ein Wikinger ins Wasser" sprang. Wie Brandt als Bundeskanzler am Ende von Kabinettssitzungen fragte, ob jemand noch einen "guten Witz" kenne.

Bahrs Formulierung lässt auf Zeiten schließen, die im minutengenau getakteten Stressleben einer Angela Merkel beinahe undenkbar geworden sind: "Wir benahmen uns wie älter gewordene Jungs." Und trotzdem konnte auch Bahr den Zusammenbruch nicht verhindern. Burnout schlug auch schon in den 70er Jahren zu, es hieß nur noch nicht so.

Manchmal verliert sich Bahr im Insiderwissen

Auf vielen Seiten kommt Brandt nur im Hintergrund vor: Wenn der Kanzler seinen Staatssekretär und späteren Bundesminister für "besondere Aufgaben" einfach machen ließ, um die Entspannungspolitik auf den Weg zu bringen, dann vergisst der Autor in der Rückschau gelegentlich die nachgeborenen Leser. Da werden ganze Seiten zum Bericht für Insider. Erstaunen lässt dabei die Tiefe der persönlichen Vertrautheit zwischen Kanzleramt und Kreml. Die scheint nicht nur in der Passage des Bonn-Besuches durch, in der Sowjet-Chef Leonid Breschnew Bahr den Arm um die Schulter legt, sie ging sogar so weit, dass Moskau den Kanzler vor dessen eigenem Fraktionschef Herbert Wehner als "Verräter" warnte.

Wenn sich das Buch dem Rücktritt Brandts in der Affäre um den DDR-Spion Günter Guillaume nähert, wird die Erzählung zum Schurkenstück mit klarer Rollenverteilung: Wehner ist der Intrigant, der möglicherweise im Krieg schon "Menschen ans Messer geliefert" habe, der nun mit "Gemeinheit und Heuchelei" Brandt abtreten ließ. Und Bahr bekennt, den falschen Rat gegeben zu haben: Der Kanzler hätte seinem Impuls folgen und nach Wehners gegen Brandt zielenden Indiskretionen gegenüber Journalisten in Moskau ("Der Herr badet gerne lau") den Fraktionschef dort abholen und bei der Ankunft in Bonn dessen Rücktritt verkünden sollen.

Abgehört bei Nixon

Im Plauderton berichtet Bahr von Vorgängen, die heute die Schlagzeilen beherrschen würden: etwa, wie Brandt, der sich mit Bahr alleine wähnte, im Gästehaus der US-Regierung über den "unsympathischen" Präsidenten Richard Nixon herzog — und dabei von der US-Administration abgehört wurde.

Brandts Charakter beschreibt Bahr als Mischung aus Charisma, Mut und Intuition. Er habe zwar den Willen zur Führung gehabt, aber nicht befehlen können. Eine Mischung aus Wahrheit und Hetze habe ihn "wehrlos" gemacht. Sein Resümee: "Willy war ein Träumer mit Bodenhaftung."

(may-)
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