20 Jahre Mauerfall - die Reise (4) Wie die Bautzener ihre Stadt retteten

(RP). Die Stadt war Synonym für politische Gefangene, der Inbegriff des DDR-Unrechts. Dabei sind die 40 Jahre des real existierenden Sozialismus nur ein winziger Abschnitt in der 1000-jährigen Geschichte Bautzens. Die tiefen Spuren, die diese Jahre vor allem an den prächtigen Denkmälern hinterließen, haben die Bürger gemeinsam allmählich beseitigt.

Als Goldschmied hat Lothar Lange schon die ausgefallensten Kreationen erschaffen. Dass er mal ein Denkmal bauen würde, das hatte er nicht geplant, als er Ende der 80er Jahre eins der vielen halbverfallenen Gemäuer in der Bautzener Innenstadt kaufte. Da sollte seine Werkstatt rein, mehr nicht, und wenn Lange im Hof von dem "schönen Haus" schwärmte, erklärten ihn seine Freunde für verrückt.

"Die haben nur die Ruine gesehen", sagt Lange heute. Dass er sein Traumhaus jemals verwirklichen könnte, hat er damals natürlich nicht geahnt. Schon gar nicht, dass ganz Bautzen wieder zum Juwel der Lausitz werden würde.

Bautzen Mitte der 80er Jahre: Der Fall vieler Mauern war hier programmiert. Dem 40-jährigen Desinteresse der DDR hielten viele Bauwerke nur mühsam stand. Zwar gab es auch im real existierenden Sozialismus Denkmalschützer. "Aber die scheiterten regelmäßig an der Wirklichkeit", sagt Christian Schramm, damals Bezirkskatechet in der evangelischen Kirche und heute Oberbürgermeister. Es gab kein Geld für die Sanierung des Volkseigentums, private Hausbesitzer gaben auf, weil sie keine bezahlbaren Handwerker fanden. Gewohnt wurde nicht in der Altstadt, sondern draußen im Gesundbrunnen, einer Plattenbausiedlung, deren Hauptbestandteile ganz in der Nähe produziert wurden.

Unverwüstlich dagegen die Mauern von Bautzen I und II, den berüchtigten Gefängnissen, in denen die DDR ihre politischen Gegner wegschloss und die lange das Image der Stadt prägten. Während das so genannte Gelbe Elend, Bautzen I, heute eine rechtsstaatliche Justizvollzugsanstalt ist, sind die Haftbedingungen des Unrechtsstaats in der Gedenkstätte Bautzen II zu besichtigen. Dort hatte die sowjetische Besatzungsmacht nach Kriegsende ein so genanntes Speziallager eingerichtet. Viele der dort Gefangenen wurden später in DDR-Haft übernommen und kamen, wenn überhaupt, als gebrochene Menschen heraus.

Ganz bewusst, sagt Schramm, hat Sachsen sein Oberverwaltungsgericht in Bautzen angesiedelt, um aus dem Inbegriff des Unrechts einen Ort der Rechtssprechung zu machen: "Wir tragen in Bautzen nicht mehr Schuld als andere. Aber wir tragen unserer Geschichte wegen mehr Verantwortung."

Christian Schramm hat 1989 mit Freunden das Neue Forum in Bautzen gegründet. Viele von ihnen trieb der Wunsch, ihre Stadt vor dem endgültigen Verfall zu retten. Ein Jahr später wechselte Schramm zur CDU und kandidierte — mehr oder minder naiv, wie er heute sagt — für den Stadtrat. Seitdem ist er der Chef — erst als Stadtdirektor, später als OB, wahrscheinlich einer der dienstältesten in Sachsen.

"In der Wendezeit ist Bautzen im Wollen förmlich explodiert", erklärt er seinen Wechsel von der Kirche, "in der ich eigentlich ganz zufrieden war", in die Politik. "Das hatte schon etwas Romantisches." Die Romantik hat sich in 20 Jahren Gemeindeordnung abgeschliffen, kommt aber hervor, wenn Schramm seine Stadt im Dreiländereck Polen-Tschechien-Deutschland präsentiert. Die sei vergleichbar mit New York, schwärmt er, ein Schmelztiegel der Nationen, wo sich an der Reichsstraße Via Regia schon immer Böhmen, Russen, Tschechen trafen und wo natürlich auch Napoleon weilte. Daher rühre die typische Toleranz, die sich sogar noch früher erwiesen habe: "Als die Reformation noch nicht einmal abgeschlossen war, haben in Bautzen Katholiken und Protestanten bereits vertraglich die interkonfessionelle Nutzung des Doms geregelt." Die gilt heute noch.

Und dann sind da noch die 50 000 Sorben in der Region, deren Kultur und Tradition "ein großer Schatz" seien. Den bewahrt man mit zweisprachigen Straßen- und Ortsschildern, Theatern und Schulen. Sorbische Bräuche wie das Osterreiten befördern zunehmend auch den Tourismus für Bautzen. Das bedeutet bisweilen eine Gratwanderung im Zusammenleben. "Viele dieser Bräuche sind tief religiös verwurzelt", erklärt Schramm. "Da kann man nicht einfach eine Bockwurstbude aufstellen." Die Zusammengehörigkeit mit den Sorben werde in Bautzen nicht etwa demonstriert, "sie wird gelebt". Auch wenn das nicht ganz billig ist: "Wenn die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein ein Buch benötigt, bestellt man es in Dänemark. Wenn die Sorben etwas brauchen, muss es gedruckt werden."

Derzeit wohl prominentester Absolvent des zweisprachigen sorbischen Gymnasiums ist Andreas Nowak, Schlagzeuger der aus Bautzen stammenden Band Silbermond. "Alle vier sind oft hier, unterstützen soziale Projekte — Silbermond ist ein Beweis für unser gutes Miteinander", sagt Schramm.

Ungleich älter ist Bautzens zweiter Exportartikel: der Senf, den man überall im Osten isst. Senf und Straßenbahnen aus dem Bombardier-Werk sind heute wichtige Steuerquellen der Stadt, die trotz einer Arbeitslosenquote von 16 Prozent wirtschaftlich gar nicht schlecht da steht: "Auf 1000 Einwohner kommen 584 Beschäftigte — das bringt uns sachsenweit auf Platz eins", sagt Schramm stolz und verweist auf viele engagierte Projekte von Industrie und Mittelstand.

Besonders beschäftigt war in den vergangenen 20 Jahren das Baugewerbe. Während alle Welt auf Dresden schaute, haben die Stadt und ihre Bürger in aller Ruhe 300 Millionen Euro allein in ihre Altstadt investiert. Aus dem Westen kam nicht nur Geld: Die Partnerstadt Heidelberg etwa schickte tonnenweise Ziegel einer ausgedienten Klinik. Die wurden bei der ersten Sanierung eines Altstadthauses verbaut.

Ute Gläser hat in der DDR Physik studiert. Gleich nach der Wende sattelte sie um auf Stadtentwicklung. In Bautzen hat sie seither Gesellen- und Meisterstücke abgeliefert. Vor allem galt es, Denkmalschutz und städtischen Bedarf, Erhaltungsansprüche und Entwicklungsnotwendigkeiten unter einen Hut zu bringen. Mit viel Fingerspitzengefühl und architektonisch wie verwaltungstechnisch hoher Kreativität tüftelten Ute Gläser und ihr Team mit Architekten und Statikern finanzierbare Lösungen aus.

Da gibt es altehrwürdige Mauern, hinter denen sich hochmoderne Auto-Aufzüge und Doppelgaragen verbergen — keine lebendige Altstadt ohne Parkplatz. Auch die Wohnungen, die rund um den Dom wieder entstanden, entsprechen modernstem Standard, und weil auch der Plan aufgegangen ist, junge Familien in die Altstadt zu holen, gibt es sogar einen Spielplatz — direkt an der Stadtmauer. Vor allem die Röhrenrutsche hat die Denkmalschützer "furchtbar gestört. Aber wir haben uns durchgesetzt", sagt Gläser zufrieden.

Darüber thront auf einem Mauerpfeiler ein winziges blaues Holzhaus mit roten Fenstern — die Lesestube von Goldschmied Lothar Lange. Die Sanierungsvereinbarung, die er mit der Stadt für sein zu DDR-Zeiten erworbenes Anwesen schloss, trägt die Nummer 001 — das erste städtisch-private Gemeinschaftsprojekt. Aus der geplanten Werkstatt wurde ein Wohnhaus mit Platz für Goldschmiede und Laden und einem Garten, der auf der Krone der Stadtmauer endet.

Für den Wiederaufbau einer Laube, die es irgendwann dort einmal gab, bekam Lange zuerst einmal keine Erlaubnis: "Meine Frau fürchtete um den Blick vom Haus ins Spreetal." Der Denkmalschutz gestattete den Bau schließlich ein paar Meter weiter — vier Seiten Baugenehmigung für ein Drei-Quadratmeter-Haus. Dafür prangt neben der Tür nun der blau-weiße "Denkmal-Kuckuck".

Nicht nur die Altstadt ist saniert. Auch der Gesundbrunnen, der mit zunehmender Attraktivität der Altstadt zehn Jahre nach der Wende zum sozialen Brennpunkt zu werden drohte, ist modernisiert, teilweise zurückgebaut und hat durch den Bau eines Schwimmbads auch wieder Akzeptanz gewonnen.

Ein Schwimmbad sollte in Bautzen schon zu DDR-Zeiten gebaut werden. Bekommen hat das Bad dann Berlin-Marzahn, mit einem Schild daran: "Wir danken der Stadt Bautzen für unser schönes Schwimmbad." Nun ist auch diese Demütigung ausgemerzt. Nicht zuletzt mit Hilfe der Transfergelder aus den alten Bundesländern. "Wir sind dafür nicht nur dankbar", sagt Schramm. "Wir machen für jeden sichtbar, was damit geschehen ist."

(RP)
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