Analyse Probleme schon durch ein „Like“

Berlin · Der türkische Innenminister drohte Urlaubern mit Festnahmen. Wie Ankara an die Namen für schwarze Listen kommt und wie die erwarteten bis zu sechs Millionen Touristen aus Deutschland darauf reagieren.

 Eine Demonstration zum Frauentag in Istanbul. Sicherheitshalber empfiehlt das Auswärtige Amt Türkei-Touristen, sich von Protestversammlungen fern zu halten.

Eine Demonstration zum Frauentag in Istanbul. Sicherheitshalber empfiehlt das Auswärtige Amt Türkei-Touristen, sich von Protestversammlungen fern zu halten.

Foto: dpa/Emrah Gurel

Der Türkei-Tourismus stellt sich auf einen neuen Rekord ein: Sechs Millionen Urlauber aus Deutschland werden in diesem Jahr zwischen Bosporus und Bodrum sowie weiteren Urlaubs-Highlights des faszinierenden Landes erwartet. Doch mitten im gedanklichen Kofferpacken sorgte der türkische Innenminister Süleyman Soylu für Irritationen, als er Urlaubern bei der Einreise mit Festnahme drohte. Mindestens 35 politisch motivierte Inhaftierungen von Deutschen seit dem Putschversuch im Sommer 2016 belegen, dass dies keine theoretische Überlegung ist. Zahlreiche Touristen wurden auch bereits stunden- und tagelang festgehalten und dann zurückgeschickt. Wie kommen die türkischen Behörden an ihre Informationen?

Die einfachste Datensammlung für Ankara sind die sozialen Netzwerke. Formal geht es hier um „öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten“, wie es das Auswärtige Amt formuliert. Die türkischen Behörden registrierten auch solche Bemerkungen, die in Deutschland selbstverständlich von der Meinungsfreiheit gedeckt seien. Und sie müssten nicht einmal in eigene Worte gefasst sein. „Ausreichend ist im Einzelfall das Teilen oder ,Liken’ eines fremden Beitrags entsprechenden Inhalts“, warnen die deutschen Diplomaten.

Selbst die Beschränkung Türkei-kritischer Kommentare oder Likes auf nichtöffentliche Foren bildet nach den Erfahrungen des Auswärtigen Amtes keinen Schutz vor Zurückweisung und Schlimmerem: „Es muss davon ausgegangen werden, dass auch nichtöffentliche Kommentare in sozialen Medien etwa durch anonyme Denunziation an die türkischen Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden“, heißt es in den Reisehinweisen des Ministeriums. Bei einer Verurteilung wegen „Präsidentenbeleidigung“ oder „Propaganda für eine terroristische Organisation“ riskierten Betroffene mehrjährige Haftstrafen.

Die Denunziation haben die türkischen Behörden längst zu einer einfachen und „smarten“ Angelegenheit gemacht. Unter der Kategorie „Lifestyle“ kann jeder Smartphone-Benutzer die App EGM herunterladen. Die Abkürzung steht für „Emniiyet Gener Müdürlügü“ - das ist die türkische Zentralpolizei. Man findet hier Parkplätze in türkischen Städten. Aber auch den Weg, Erdogan-Gegner anzuschwärzen. Wer den Staatschef bei Facebook einen Diktator nennt, kann auch schon mal eine Nachricht an seinen Facebook-Account bekommen mit den Worten: „Ich habe dich angezeigt, und das nächste Mal, wenn du in die Türkei kommst, gibt es für dich keine Rettung.“

Nach Erkenntnissen der kurdischen Gemeinde in Deutschland gibt es neben den von ihr auf rund 6000 geschätzten  offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern  des türkischen Geheimdienstes MIT viele weitere nationalistische Türken, die es als ihre Aufgabe ansehen, die Denunzierungs-App zu nutzen. Darüber hinaus versuche der türkische Staat, über seine mehr als tausend Imame und Lehrer für muttersprachlichen Unterricht an Informationen über Regimegegner zu kommen.

Von Hunderten, von Einreiseverboten betroffenen Deutschtürken sprach der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde, Ali Erkan Toprak, bereits ein halbes Jahr nach dem Putschversuch. Insider aus dem türkischen Staatsapparat hätten ihm von der Existenz schwarzer Listen berichtet, mit denen die Namen eintreffender Passagiere abgeglichen würden. Deshalb kann Toprak die aktuellen Proteste wegen der Festnahme-Drohung auch schwer nachvollziehen. „Ich komme mir langsam von der deutschen Politik veräppelt vor“, sagte Toprak unserer Redaktion. Die gesamte Türkeipolitik sei ein Desaster. Vor allem kritisiert er die Beschwichtigungsbemühungen: „Die Appeasement-Strategie ist völlig gescheitert.“ Seit mindestens drei Jahren praktiziere die Türkei bereits diese Politik gegen alle Kritiker, vor allem gegen Kurden. Er selbst könne bereits seit 2015 nicht mehr in die Türkei reisen. „Die Türkei droht nicht nur, sie praktiziert dies bereits seit Jahren“, unterstreicht Toprak.

Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass jede Demonstration von Erdogan-Gegnern durch türkische Agenten oder deren Mittelsmänner genau beobachtet wird. Der Gebrauch des Wortes „Terrorist“ ist in türkischer Lesart fließend. Mal sind es die Anhänger der auch in Deutschland verbotenen PKK oder deren Nachfolgeorganisationen, mal auch die Sympathisanten des Predigers Fethullah Gülen, einstmals Verbündeter Erdogans, nun von ihm als Drahtzieher des Putschversuches bezichtigt.

Kaum hatte sich die Nachricht von der Festnahme-Drohung verbreitet, versicherte das türkische Außenministerium, Touristen aus Deutschland seien in der Türkei weiterhin herzlich willkommen. Die Äußerungen von Soylus bei einer Rede in Ankara seien aus dem Zusammenhang gerissen. Tatsächlich hatte der Innenminister angekündigt: „Von nun an wird es nicht mehr so einfach sein, draußen Verrat zu begehen, und sich dann in der Türkei zu amüsieren.“ Wenn „Verräter“ über Flughäfen einreisten, würden sie fest- und „aufgenommen“.

Potenzielle Urlauber ficht das nicht an. Der größte Reiseveranstalter TUI berichtete am Freitag weiterhin davon, dass die Türkei derzeit die „höchsten Buchungszuwächse“ aufweise. „Wir merken aktuell keine Verunsicherung bei unseren Urlaubern, weder im Buchungsverhalten noch in unseren Callcentern“, berichtete eine Sprecherin.

Vielleicht sollten die sechs Millionen deutschen Türkei-Urlauber bei ihrer Reise gelegentlich auch mal nach rechts und links schauen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort