Lernen aus der Geschichte Wir sind nicht Weimar

Als die Väter des Grundgesetzes vor 70 Jahren die Verfassung für ein von der Diktatur befreites Land schufen, zogen sie Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik. Es war der Beginn der Entwicklung einer neuen demokratischen Kultur.

 Der Präsident des Parlamentarischen Rates, Konrad Adenauer, unterzeichnet das Grundgesetz am 23. Mai 1949 in Bonn.

Der Präsident des Parlamentarischen Rates, Konrad Adenauer, unterzeichnet das Grundgesetz am 23. Mai 1949 in Bonn.

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Menschen definieren sich und ihre Zeit durch die Veränderung. Was unterscheidet eine Generation von anderen? Was ist besser geworden – was war womöglich besser? Und natürlich: Was sollte bitteschön nicht noch einmal passieren? Von den Antworten hängt einiges ab – die entscheidende Frage etwa: Wie wollen wir leben?

Zur Standortbestimmung des Jahres 2018 gehört: Wir sind nicht Weimar. Das darf man getrost denen entgegenhalten, die mit Unkenrufen von „Weimarer Verhältnissen“ durch die Lande ziehen, weil die Bindungskraft der Volksparteien erlahmt und die politischen Ränder erstarken. Weimar mündete in einen Regimewechsel und dann in eine Katastrophe. Davon ist diese Republik weit entfernt, anders als jene, die vor hundert Jahren ausgerufen wurde.

Diese Republik hatte nicht nur mehr Glück, sie hatte auch mehr Zeit, zudem fähiges politisches Führungspersonal, das sein Mandat verantwortungsvoll zu nutzen wusste. Diese Republik hat sich auch deshalb als so stabil erwiesen, weil die wiedergewonnene Demokratie von Anfang an entschiedener vor ihren Feinden im Innern beschützt wurde, als es in Weimar je der Fall war. „Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, dass sie selber die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft“, skizzierte seinerzeit der Sozialdemokrat Carlo Schmid, eine Schlüsselfigur des Parlamentarischen Rates, das neue Prinzip der abwehrbereiten Demokratie.

Andererseits kann es nicht schaden, sich das Drama von damals, sooft es geht, vor Augen zu führen. Die Väter des Grundgesetzes, die es zumeist selbst erlebt hatten, schufen die Verfassung vor 70 Jahren in wesentlichen Teilen denn auch als Gegenentwurf zu Weimar. Ohne die Gespenster aus der Zeit, in der es nicht gelungen war, eine freiheitlich demokratische Grundordnung zu etablieren, ist die Bundesrepublik bis heute nicht denkbar. Gut, wenn diese Geister noch immer wachsam registriert werden.

Zweimal entstand die deutsche Demokratie aus einem Kollaps. Doch das Desaster am Ende des Zweiten Weltkriegs unterschied sich von dem knapp 27 Jahre zuvor: „1918 brach ein Regime zusammen, 1945 ein Staat“, schrieb der Schweizer Journalist und Autor Fritz René Allemann 1956. Der Satz findet sich in seinem Buch „Bonn ist nicht Weimar“, dessen Titel der Bundesrepublik nur sieben Jahre nach ihrer Gründung ein bemerkenswert positives Zeugnis ausstellt. Untergang als Chance: Wo nichts mehr zu retten gewesen sei, habe sich der Neuanfang umso radikaler vollziehen können.

Zur Wahrheit gehört allerdings, dass sich die Begeisterung der Westdeutschen zunächst in Grenzen hielt. Große Teile der Bevölkerung übertrugen ihre Vorbehalte gegen die Besatzer auf den politischen Neubeginn. Der Nationalsozialismus erschien vielen als eine Idee, die einfach schlecht umgesetzt worden war. Das Grundgesetz? Ein fernab der Öffentlichkeit in Herrenchiemsee von einem Zirkel unbekannter Experten erdachtes Werk, das auch 1955 nicht einmal jeder Zweite kannte. 1950 stand nur eine knappe Mehrheit von 53 Prozent hinter dem Mehrparteiensystem. Man hatte anderes zu tun, als sich mit Politik zu beschäftigen.

Aber dann: Das Wirtschaftswunder war keine vorübergehende Erscheinung. An die Stelle von Kabinetten, die zu Weimarer Zeiten im Durchschnitt nicht länger als acht Monate gehalten hatten, traten lange Kanzlerschaften. Statt Reparationen gab es einen Marshallplan. Bald war die Bundesrepublik eingebettet in den Westen und nicht wie damals eingekreist.

Es entwickelte sich etwas, was viele Deutsche jahrzehntelang herbeigesehnt, aber nicht bekommen hatten: Kontinuität, Normalität. 1955 outeten sich bereits drei von vier befragten Bundesbürgern als Anhänger des Mehrparteiensystems. Nicht zu vergessen jene Abstimmung mit den Füßen, die etwa drei Millionen Bewohner der sowjetisch besetzten Zone und späteren DDR noch zum Ausdruck bringen konnten und „rübermachten“, ehe ihre alte Heimat 1961 eingemauert wurde.

Vom amerikanischen Politikwissenschaftler Robert Alan Dahl stammt die These, dass die Funktionsfähigkeit einer Demokratie mehr von sozialen und kulturellen Faktoren abhängt und weniger von der Ausgestaltung des politischen Institutionensystems. Hätte also die Weimarer Republik trotz ihrer Defizite – der zersplitterten Parteienlandschaft, des großen Spielraums, der Volksentscheiden eingeräumt war, der Leichtigkeit, mit der Parlamente aufgelöst werden durften – überleben können, wenn sie denn eine Demokratie, getragen von überzeugten Demokraten, gewesen wäre? So viel steht fest: Letzteres war nicht der Fall.

Deshalb wäre es zu einfach, den Siegeszug der Demokratie in Westdeutschland nach Ende des Zweiten Weltkriegs allein auf die Änderungen an den Stellschrauben ihres Räderwerks zurückzuführen, die 1949 vorgenommen wurden: die Stärkung der Parteien, das Erschweren von Verfassungsänderungen, die Sicherung der Gewaltenteilung, die Unantastbarkeit von Menschen- und Bürgerrechten, Beschränkung von Plebisziten, die Möglichkeit, verfassungsfeindliche Parteien zu verbieten. Auch steht es dem Bundespräsidenten, anders als dem Reichspräsidenten, nicht mehr zu, die Volksvertretung aufzulösen. Misstrauensvoten gegen Kanzler müssen konstruktiv sein, also stets zugleich eine personelle Alternative benennen, damit der politische Betrieb störungsfrei weitergehen kann. All das stellte zweifellos eine Verbesserung dar, doch hätte sich die politische Kultur, auf der heute der Grundkonsens der Demokraten beruht, ohne die soziale Sicherheit, für die das Wirtschaftswunder sorgte, nicht so entfalten können. Noch etwas trug entscheidend dazu bei, dass die Menschen es wertschätzen lernten, dass in ihrem Land alles „auf dem Boden des Grundgesetzes“ geschah: das 1949 ebenfalls geschaffene Bundesverfassungsgericht. Der oberste Zuchtmeister der demokratischen Auseinandersetzung sorgte nicht nur dafür, dass das Grundgesetz in der Bevölkerung präsent war, sondern ermöglichte eine Streit- und Konfliktkultur, die die Deutschen bislang nicht gekannt hatten.

„In dem Maße, wie sie Leben gewann, wie aus bloßen Vorschriften kräftige Akteure und Aktionen hervorgingen, wie die Organe sich leibhaftig regten, die dort entworfen, wie wir selbst die Freiheiten gebrauchten, die dort gewährleistet waren, wie wir in und mit diesem Staat uns zu bewegen lernten, hat sich unmerklich ein neuer, ein zweiter Patriotismus ausgebildet“, schrieb der Politikwissenschaftler und Journalist Dolf Sternberger 1979, zum 30. Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes, in der „FAZ“ und prägte damit einen neuen Begriff: den Verfassungspatriotismus.

Seit Jahren liefern Umfragen gleichbleibend hohe Zustimmungsraten der Bundesbürger zu ihrer Demokratie. 2018 zeigten sich zuletzt laut einer Erhebung der Europäischen Kommission 14 Prozent damit sehr zufrieden, 58 Prozent ziemlich zufrieden, 21 Prozent nicht sehr zufrieden und nur ein Prozent überhaupt nicht zufrieden.

Menschen definieren sich und ihre Zeit durch die Veränderung. Zu den Antworten auf die entscheidende Frage, wie wir leben wollen, wird immer auch die gehören, was wir bewahren müssen. Die demokratische Kultur steht da an vorderster Stelle. Manches, was die Weimarer Jahre damals so unheilvoll bestimmte, wabert wieder durch die Gegenwart: das Leugnen von Fakten, die grobe Vereinfachung komplexer Sachverhalte oder gar die Behauptung, es gebe ein anderes, wahrhaftigeres Volk als das, was seine Stimme an der Wahlurne abgegeben hat. Die Abwehrbereitschaft dieser Demokratie bleibt ein Auftrag – und Weimar mehr als eine beschauliche Stadt in Thüringen.

(bew)
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