Öffentlich-rechtlicher Rundfunk WDR – die Schwächen eines Riesen

Analyse | Köln · Der größte deutsche Regionalsender ist in jüngster Zeit nach einigen Pannen etwas außer Tritt geraten. Auf was die Programmverantwortlichen auf jeden Fall mehr achten müssen.

 Der WDR (Westdeutscher Rundfunk) und der Dom in Köln.

Der WDR (Westdeutscher Rundfunk) und der Dom in Köln.

Foto: dpa/Oliver Berg

Er prägt Köln, er prägt Nordrhein-Westfalen, er prägt Deutschland. Der Westdeutsche Rundfunk (WDR) ist eine Institution. Doch ähnlich wie das große Vorbild BBC in Großbritannien fällt auch der WDR in jüngster Zeit durch Pannen und Ungeschicklichkeiten auf, produziert eher selbst Negativ-Schlagzeilen, statt durch journalistische Erfolge zu glänzen.

Beispiel Simone Standl: Die Programm-Macher hielten die 59-jährige Moderatorin der Kölner Lokalzeit für nicht mehr sendetauglich und ersetzten sie durch eine jüngere Kollegin. Prompt war von Alters-Mobbing die Rede, auch wenn das die Personaldirektion das nach eigenem Bekunden gar nicht beabsichtigte.

Beispiel Flut: In der Flutkatastrophe lief im populären Hörfunksender WDR 2 am Abend des 14. Juli die ARD-Popnacht, und das Fernsehen stellte nach dem Wetterbericht um 22.30 Uhr die laufende Berichterstattung ein. Und das, obwohl das Wasser in vielen Teilen des Sendegebiets unaufhaltsam weiter stieg und Straßen, Häuser und Schulen überschwemmte. Das private Radio Wuppertal machte hingegen sofort eine Sondersendung.

Beispiel Diversität: Schließlich wollte der WDR aus Gründen der ethnischen Vielfalt die arabisch-stämmige Journalistin Nemi El-Hassan als zentrale Redakteurin in der Wissenschaftssendung „Quarks“ aufbauen. Die Moderatorin mit palästinensischen Wurzeln hatte allerdings vor Jahren an einer Demonstration der radikalislamischen Hamas in Berlin teilgenommen, wo Hassrufe gegen Juden laut wurden. Das war dem WDR offenbar entgangen. Ebenso wie Posts in sozialen Medien, die eine Nähe zu der Terrororganisation nahelegten. Die gelernte Medizinerin bestreitet den Zusammenhang und insbesondere alle antisemitischen Bezüge. Der Sender löste dennoch den Vertrag auf, ohne klar die Gründe zu nennen.

Beispiel Programmdirektion: Valerie Weber, die quirlige Chefin des Senders für NRW, Wissen und Kultur war 2013 zum WDR gestoßen. Sie kam von Antenne Bayern, dem größten Privatradio Deutschlands. Die Spezialistin für einen Rundfunk, der nach ihren Worten vor allem an den Bedürfnissen der Nutzer ansetzt, sollte Strukturen beim Kölner Sender aufbrechen, die Digitalisierung voranbringen und mit weniger erfolgreichen Formaten Schluss machen. Die Handschrift der 55-jährigen Programmmacherin war deutlich zu spüren. Die Tonspur und die Themen der sieben Radiokanäle wurden komplett verändert. Selbst der Klassik-Sender WDR 3 bekam nun ein tägliches Hörspiel. Dafür wurden dann die üppigen literarischen Beiträge gekürzt. Der Elan der Programmdirektorin war vielen im Sender offenbar zu stürmisch. Die Rede war von Digitalisierung mit der Brechstange, geklagt wurde über eine „Verflachung“ der Inhalte – angeblich typisch für eine aus dem Privatradio stammende Seiteneinsteigerin. Bei ihrer zweiten Amtszeit ab 2019 setzte sie ihr Förderer, Intendant Tom Buhrow, noch problemlos durch. Doch jetzt warf sie offenbar selbst das Handtuch. Offiziell äußerte sich der WDR bisher nicht zu den Gründen ihrer vorzeitigen Vertragsauflösung. Denn eigentlich sollte sie bis April 2024 an Bord bleiben.

Als wäre das alles noch nicht genug, gab es deutliche Preissteigerung bei einem Prestigeobjekt der TV- und Radio-Anstalt. Das neue Filmhaus in Kölns City wird den Sender 240 Millionen Euro kosten. Die Bau- und Planungskosten lagen einmal bei 80 Millionen. Der WDR widerspricht dieser Darstellung. Er habe der dafür zuständigen Kontrollinstanz, der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) einen Sockelbetrag von 130 Millionen gemeldet und die Projektkosten im Einverständnis mit dieser Institution auf 160 Millionen erhöht. Allerdings musste der Sender einräumen, dass durch Preissteigerungen am Bau das ganze Vorhaben doch erheblich teurer wurde.

Also Pleiten, Pech und Pannen auf ganzer Linie? Vorsicht. Ein öffentliches wie auch ein privates Unternehmen dieser Größe hat immer Baustellen, macht Fehler in einzelnen Bereichen oder erfüllt nicht die Erwartungen. Das ist auch bei einem Riesen wie dem WDR so, dem größten Regionalsender Deutschlands. Und wo 4200 Menschen am Werke sind, passiert immer auch einiges, was nicht passt und was man lieber verschweigen möchte. Das sei dem Sender zugestanden.

Trotzdem macht die Häufung stutzig. Der Medienjournalist Thomas Lückerath, der das Magazin DWDL.de leitet, sieht es so: „Die Breite und die Zuverlässigkeit des WDR in der Berichterstattung ist nach wie vor sehr hoch. Allerdings knüpfen sich daran auch Erwartungen. Die hat der WDR nicht immer erfüllt.“ Lückerath gilt als Kritiker des Senders. Er sieht die Schwächen als systemimmanent an. Der Sende-Riese, dessen Normalgeschäft zweifellos routiniert und professionell abläuft, hat zu wenig in die Zukunft investiert. Darüber kann auch die flotte Aufmachung der neuen Aktivitäten im Geschäftsbericht des WDR nicht hinwegtäuschen. So hat sich der Sender zwar bravourös in der Corona-Krise geschlagen, sein Programm erweitert und auf vielen Ebenen – technisch, netzübergreifend, politisch und kulturell – Maßstäbe gesetzt. Doch das war punktuell und der Krise geschuldet. Eine längerfristige Betrachtung macht die Mängel sichtbarer. „Der WDR hat starke Marken. Aber seit 20 Jahren ist keine starke Marke hinzugekommen. Der WDR hat in dieser Zeit wenig Prägendes geschaffen.“ Eine treffende Beschreibung des Medienkritikers Lückerath. Die „Sendung mit der Maus“, die „Sportschau“ oder die „Lindenstraße“, die das Profil des WDR bestimmen, existieren schon seit Jahrzehnten – oder wurden mangels Erfolg eingestellt wie die „Lindenstraße“.

Gleichzeitig kann der Sender innovative Kräfte nicht halten. Etwa die mit der Corona-Krise berühmt gewordene Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim. Die Deutsche mit vietnamesischen Wurzeln erlebte beim Kölner Sender einen kometenhaften Aufstieg. Dann warb das ZDF sie im April ab, wo mit Jan Böhmermann oder Jana Pareigis schon andere bundesweit bekannte Stars arbeiten. DWDL-Chefredakteur Lückerath hat dafür eine naheliegende Erklärung: „Talente unter den Moderatoren werden nicht ausreichend gefördert. Der Wettbewerb um die Moderatoren ist sehr hart – zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Sendern, aber auch zwischen den öffentlich-rechtlichen Sendern.“ Auch die bekannteste Kölner Komikerin Carolin Kebekus beendete vorzeitig die Zusammenarbeit mit dem WDR. Der hatte eine kirchenkritische Sendung der Kabarettistin nicht ausgestrahlt.

Natürlich haben in jüngster Zeit gerade die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten einen Aderlass an prominenten Journalisten erlebt. Die Moderatorin Linda Zervakis oder der Sprecher Jan Hofer sind nur einige davon. Nicht alle sind zu halten. Aber ein bisschen mehr Vorsorge vor Abwanderung ist schon möglich. Wenn etwa Strukturen nicht flexibel genug sind, ecken gute Fernseh- oder Radioleute gerne an. Im hart umkämpften Arbeitsmarkt finden sie schnell spannendere Angebote.

Es wäre allerdings unfair, die Schuld nur beim Sender zu sehen. Die Ablösung der Moderatorin Standl stieß gerade bei älteren Kolleginnen und Kollegen auf starke Ablehnung. Gegenüber unserer Redaktion erklärte der Sender dazu: „Durch den digitalen Wandel befindet sich der WDR im größten Umbruch seiner Geschichte. Dazu gehört es auch, Programmangebote für neue Zielgruppen zu entwickeln und dabei die Vielfalt der Gesellschaft noch stärker abzubilden – etwa die Perspektiven von Menschen mit unterschiedlichen sozialen oder kulturellen Hintergründen. Das haben wir auch im Hinterkopf, wenn wir neue Moderator:innen für unsere Sendungen suchen.“ Die Absicht ist sicher nicht verkehrt. Der Streit über die Ablösung Standls zeigt aber, wie schwer sich der WDR damit tut.

Zumal es intern ohnehin rumort. Weil die Kölner in der jüngeren Vergangenheit 500 Stellen im Sender gestrichen haben, klagt die Betriebsgruppe der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi über zunehmenden Arbeitsdruck und eine starke Belastung der Redakteurinnen und Redakteure sowie der sie unterstützenden Bereiche. Gerade der umfangreiche Internet-Auftritt des Senders, der Einsatz von Künstlicher Intelligenz, die neuen Service-Angebote für die Nutzer und Nutzerinnen des Senders wie etwa Virtual-Reality und Augmented Reality Apps, wo Zuschauende den Kölner Dom, ein Bergwerk oder die Situation von Kriegskindern erleben können, bedeutet einen deutlich größeren Aufwand bei gleichbleibendem Personal. Da steigt logischerweise der Arbeitsdruck.

Andererseits: Auf vielen Innovationsfeldern gilt der Kölner Sender als federführend. Das gehört gewissermaßen zur DNA des WDR. Im Bereich der elektronischen Übertragung setzten die Kölner schon in früheren Jahrzehnten Maßstäbe. Das gilt nun auch für die sogenannten synthetischen Medien“. So verfügt der WDR etwa über ein Videostreaming, das den privaten Sendern und vielen Angeboten im Internet überlegen ist. Auch bei Applikationen für Sprachassistenzsysteme wie Alexa oder Google Assistant marschiert das Rundfunk-Unternehmen an der Spitze der Bewegung.

Dass aber nicht alle Beschäftigten ausreichend geschult werden, womöglich teure Parallelstrukturen entstehen oder digitale Systeme überhastet eingeführt werden, steht auf einem anderen Blatt. Zumal die Vorstöße des WDR von der kommerziellen Konkurrenz, also von Zeitungsverlagen oder Privatsendern, durchaus kritisch gesehen werden. „Der WDR dringt in bestimmte Gebiete ganz harmlos ein und baut sie dann systematisch aus – unter Einsatz der Rundfunkbeiträge“, bemängelt der Medienkritiker Lückerath die teilweise unfaire Konkurrenz. Als Beispiele nennt er die WDR-Podcasts oder den digitalen Ausspielsender Einslive diggi, die inzwischen erhebliche Größenordnungen angenommen haben.

Die Meinungen darüber gehen im umkämpften Medienmarkt auseinander. Immerhin stoßen da bedeutende Interessen aufeinander, spielen beide Seiten mit harten Bandagen. Als Innovationstreiber ist der WDR natürlich auch den Privaten willkommen, denn damit übernimmt der Beitragszahler einen Teil der Kosten der Neuerungen. Da damit insgesamt das technische Niveau der Ausstrahlungen steigt, profitieren quer über die Kanäle alle Nutzer und Nutzerinnen davon.

Nach Ansicht der Rundfunk-Expertin Christine Horz-Ishak, die an der Technischen Hochschule Köln Medienkommunikation lehrt, gehört gerade auch die Digitalisierung zum Sendeauftrag. „Die Erweiterung des Auftrags angesichts der Digitalisierung ist teuer, dient aber letztlich dazu, dass die Sender ihren Auftrag erfüllen können“, findet die Sozialwissenschaftlerin. „Wir haben das teuerste öffentlich-rechtliche Rundfunksystem“, meint die Medienexpertin. Das sei aber angesichts der Stärken des WDR auch berechtigt. „Verlässliche Informationen wie etwa zum Infektionsgeschehen in der Pandemie konnten viele kommerzielle TV-Sender und Radiostationen nicht liefern.“

So bleibt es die Stärke des Kölner Senders, hochwertige Informations-, Unterhaltungs- und Bildungsangebote bereitzustellen. Das schafft seine Daseinsberechtigung wie auch die der übrigen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, einem gewichtigen Faktor der öffentlichen Wirtschaft. Zugleich hat der Sender aber Fett angesetzt, das ihn bisweilen hindert, flexibel auf neue Herausforderungen zu reagieren.

Einen Ausweg sieht der Medienkritiker Lückerath im neuen Medienstaatsvertrag, der gerade entsteht und womöglich 2023 in Kraft tritt: „Der mögliche neue Medienstaatsvertrag schafft mehr Flexibilität. Rundfunkanstalten wie der WDR sind dann an ihre Aufgaben, nicht mehr an den Betrieb einzelner Sender gebunden.“ Das heißt, der Kölner Sender könnte einzelne Kanäle schließen, ohne vorher die Politik zu fragen. Das würde dem WDR ganz neue Perspektiven eröffnen, aber auch viel Verantwortung auferlegen.

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