(Spät-)Aussiedler in Deutschland Die anderen Migranten

Düsseldorf · Sie reden zu Hause häufig nur Russisch und wählen dennoch deutschnational: Russlanddeutsche leben in zwei Welten. Irgendwo zwischen Deutschland und Russland suchen sie nach ihrer eigenen Identität.

 Beim Tanzfestival "Neue Welle" in Duisburg-Walsum führen Tänzerinnen einen ukrainischen Nationaltanz auf.

Beim Tanzfestival "Neue Welle" in Duisburg-Walsum führen Tänzerinnen einen ukrainischen Nationaltanz auf.

Foto: LmdR Nordrhein-Westfalen

Über kaum ein Thema wurde in den letzten Jahren so intensiv gestritten wie über die deutsche Asyl- und Flüchtlingspolitik, insbesondere die rund 700.000 Syrer die mittlerweile in Deutschland leben. Eine ungleich größere Migrantengruppe sorgte hingegen in jüngerer Vergangenheit für weitaus weniger Aufmerksamkeit. Es sind die Deutschen aus Russland. Alleine in Nordrhein-Westfalen leben heute rund 700.000 Spätaussiedler. Sie haben einen Migrationshintergrund aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und kamen nach 1993 als Rückkehrer in die Bundesrepublik.

„Wir haben das Problem, dass unsere Geschichte und Lebensleistung nicht anerkannt wird. Wir werden oft einfach als Russen wahrgenommen“, sagt Dietmar Schulmeister. Er ist mit 27 Jahren bereits Landesvorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland. „Wir sind eine sehr heterogene Gruppe. Da wird häufig nicht differenziert.“

Zum Thema wurden die Russlanddeutschen nach der letzten Bundestagswahl. Nur wenige Russlanddeutsche zogen in den letzten Jahrzehnten in die Parlamente ein, auch auf kommunaler Ebene. Ebenso ist die Wahlbeteiligung traditionell gering, das Ergebnis zeigte 2017 aber eine auffällige Tendenz. 15 Prozent der russlanddeutschen Wähler gaben ihre Stimme der AfD. Bei Wählern mit russischer und deutscher Staatsbürgerschaft erreichte die Partei laut einer Studie der Universitäten Duisburg/Essen und Köln sogar 23 Prozent.

„An Orten mit einer hohen Konzentration von Russlanddeutschen gab es auch eine hohe Konzentration von AfD-Wählern“, Das ließ sich in vielen Wahlkreisen in Deutschland beobachten und ist daher tendenziell kein Zufall“, sagt Jannis Panagiotidis. Er leitet den Lehrstuhl für „Russlanddeutsche Migration und Integration“ an der Universität Osnabrück. Es ist der bundesweit einzige seiner Art. In NRW ging diese Rechnung beispielsweise im oberbergischen Waldbröl auf. In der Stadt schnitt die Partei mit knapp 15 Prozent besonders gut ab (NRW: 9,4 Prozent). Im Stimmbezirk Maibuche-Eichen, einer russlanddeutschen Hochburg, erreichte sie sogar rund 50 Prozent der Zweitstimmen.

„Die AfD trifft mit ihrem Programm durchaus das Lebensgefühl einiger Russlanddeutscher, das ist keine reine Propaganda“, sagt Panagiotidis. „Interessant ist, dass die Wahlergebnisse denen in Ostdeutschland ähneln.“ Ähnlich wie Ostdeutsche wählen Russlanddeutsche neben der AfD auch überproportional oft die Linke. Beide Gruppen haben den Sozialismus erlebt und fühlen sich in der Bundesrepublik tendenziell benachteiligt.

Zunächst galten Russlanddeutsche jedoch als CDU-Stammwähler. Der Grund: eine konservative Überzeugung und die aussiedlerfreundliche Politik Helmut Kohls in den 90er Jahren. Da erschien es nur logisch, dass die CDU 2013 mit Heinrich Zertik auch den ersten russlanddeutschen Bundestagsabgeordneten stellte. Vier Jahre später trat der Lipper erneut an. Wie 2013 wurde Zertik von der CDU in NRW auf Landeslistenplatz 48 gewählt. Dieses Mal zogen jedoch gerade einmal vier Abgeordnete über die Landesliste in den Bundestag ein. Die CDU verlor im Land und in Lippe mehr als sieben Prozentpunkte, die AfD gewann deutlich hinzu. Zertik verlor sein Mandat. Für Schulmeister, der selbst CDU-Mitglied ist, ist das keine Überraschung. „Die Bundes-CDU hat einfach laufen lassen, hat die falschen personellen Entscheidungen getroffen. Die Russlanddeutschen galten als sichere Wählergruppe“, sagt er. „Dabei ist die Unzufriedenheit darüber sehr groß, dass die Lebensleistung nicht anerkannt wird.“ Seit 1996 beträgt der Abschlag bei den Aussiedlerrenten 40 Prozent. Schulmeister beklagt, dass sich hier in den letzten Jahrzehnten nichts bewegt habe. „Die AfD-Wähler sind eine Folge der Lippenbekenntnisse“, sagt er.

Unter der neuen Landesregierung bewege sich jedoch etwas. Nicht nur, weil es nun mit Heiko Hendriks einen Aussiedler-Beauftragten gibt. Der Ausschuss für Kultur und Medien berät ab dieser Woche einen Antrag der CDU- und der FDP-Fraktion. Die Lebensleistung und die Geschichte der (Spät)-Aussiedler müsse stärker wertgeschätzt werden, heißt es dort. Zudem befasst sich der Bundesrat derzeit mit einer möglichen Rentenanpassung.

In der Sowjetunion war es für deutschstämmige Familien nicht möglich, ihre Identität zu leben. Im Stalinismus wurden sie als innerer Feind betrachtet, im Laufe des Zweiten Weltkriegs vorwiegend nach Sibirien, an den Ural und nach Kasachstan deportiert. Zwar wurden die Russlanddeutschen 1964 durch ein Dekret rehabilitiert, doch die Vorurteile blieben.

Diesen Umstand nutzt die AfD, propagiert „deutsche Werte“. Zertik hält die Partei allerdings für eine Mogelpackung. Am Samstag vor der Bundestagswahl war er in Hannover. Als er sich einem AfD-Wahlkampfstand nähert, wird er gefragt, ob er auch einer von „denen“, den Ausländern sei. „Da haben sie ihr wahres Gesicht gezeigt“, sagt Zertik. Er sieht aber auch Anknüpfungspunkte: „Identität, Glaube und Heimat sind wegen unserer Geschichte wichtige Säulen. Da wird schon genauer hingesehen.“ Schulmeister hält dagegen: „Die AfD unterdrückt Minderheiten. Das ist genau das, was den Deutschen in Russland widerfahren ist. Wer sie dennoch wählt, der hat die eigene Geschichte nicht verstanden.“

Doch die AfD hat Potenzial in dieser Wählergruppe – und das früh erkannt. Bereits zur Landtagswahl in NRW schaltete die Partei Anzeigen auf Russisch, ernannte einen eigenen Wahlkampfkoordinator für die Russlanddeutschen. Statt Zertik sitzen nun zwei Russlanddeutsche für die AfD im Bundestag. Beide sind wie er in Kasachstan geboren. Da enden ihre Gemeinsamkeiten aber auch schon. „Die beiden AfD-Abgeordneten sind sehr unterschiedlich. Der eine ist patriotisch-säkular, der andere ist sehr religiös geprägt“, sagt Panagiotidis.

Der „Patriot“ ist Anton Friesen. Die Russlanddeutschen suchen für ihn nach „Familiensinn, Patriotismus, Verlässlichkeit und Disziplin“. Werte, die laut Friesen durch den Einfluss der 68er-Bewegung bedroht sind. Sein Fraktionskollege Waldemar Herdt war zuvor im Bundesvorstand der Partei Bibeltreuer Christen aktiv. „In erster Linie ist es den Russlanddeutschen wichtig, dass Deutschland deutsch bleibt“, sagt er. Er begründet das religiös: „Die christlichen Werte machen Deutschland besonders, garantieren Wohlstand und bilden eine Grundlage, um die uns andere Länder beneiden.“

Herdts Äußerungen zeigen den Zwiespalt der Russlanddeutschen. „Soziologisch betrachtet sind sie eine Migrantengruppe, rechtlich und in der Selbstwahrnehmung nicht“, sagt Panagiotidis. Schulmeister stimmt ihm zu. „Das Wort Migrant hat im Russischen eine negative Bedeutung. Wir reden auch nicht von Integration, sondern von Beheimatung“, sagt er.

Aufgrund ihrer deutschen Volkszugehörigkeit erhalten Russlanddeutsche leichter die deutsche Staatsangehörigkeit, sind anderen Migrantengruppen gegenüber priviligiert. „Dennoch gibt es Anpassungsprobleme. Wenn die Messlatte dann höher ist, weil es doch eigentlich Deutsche sind – dann wird es problematisch“, sagt Panagiotidis. Diesen Identitätskonflikt müssen Russlanddeutsche überwinden.

Heinrich Zertik ist da schon weiter. „Ich sage immer: Ich komme aus der Sowjetunion, geboren in Kasachstan. Jetzt bin ich stolz, dass ich Lipper bin.“ Seine familiären Hintergründe will er dabei nicht vergessen. „Alle sollen ihre Geschichte mitbringen und sie auch bewahren. Das fügt sich dann zu einem bunten Blumenstrauß zusammen.“

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