Der Fall Boris Palmer Warum Parteien Außenseiter brauchen

Meinung | Düsseldorf · Der Tübinger Oberbürgermeister hat bei Facebook einen rassistischen Spruch rausgehauen und rechtfertigt das nachträglich als Ironie. Boris Palmer verkörpert immer wieder die Lust an der Provokation. Aber sollten die Grünen ihn deswegen wirklich aus der Partei ausschließen?

 Boris Palmer, Oberbürgermeister der Stadt Tübingen (Archivbild).

Boris Palmer, Oberbürgermeister der Stadt Tübingen (Archivbild).

Foto: picture alliance / Pressebildage/ULMER

Hier folgt kein Plädoyer für Boris Palmer. Das wäre auch schwer. Das N-Wort zu gebrauchen, lässt sich nicht rechtfertigen. Und selbst sein Argument, es habe sich um Ironie gehandelt, zählt nicht. Denn in der Politik wie im richtigen Leben gilt: Ironie geht häufig schief, und das sollte ein erfahrener Politiker wissen. Ironie bedeutet, das Gegenteil von dem zu sagen, was man eigentlich meint – da sind Missverständnisse vorprogrammiert. Aber selbst wenn es sich bei seiner Erklärung nur um den Versuch einer nachträglichen Rechtfertigung handeln sollte, also um eine Schwindelei: Ist es wirklich richtig, dass die Grünen ihn deswegen rauswerfen wollen?

Schon das Gefälle zwischen ihm und Annalena Baerbock wirft Fragen auf. Hier die Kanzlerkandidatin und Parteichefin, dort der Oberbürgermeister der zwölfgrößten – also einer ziemlich kleinen – Stadt in Baden-Württemberg. Wenn Baerbock also twittert, er habe die politische Unterstützung der Grünen verloren und es werde nun „über die entsprechenden Konsequenzen inklusive Ausschlussverfahren“ beraten, stellt sich schon die Frage, ob es nicht ein paar Nummern kleiner geht. Und würde sie nicht ins Kanzleramt streben, wäre das wahrscheinlich auch so.

Diese Geschichte gibt es auch zum Hören - exklusiv für Sie. Abonnieren Sie jetzt unsere RP Audio-Artikel in Ihrer Podcast-App!

Im Recht gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der sich auch für die Politik empfiehlt. Eine rassistische Äußerung, ironisch oder nicht, in einem Facebook-Chat soll Grund genug sein, jemanden auszuschließen, der seit einem Vierteljahrhundert dabei ist, viele Debatten mitgeprägt hat, es im Landtag von Stuttgart zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden brachte und seit 14 Jahren als Oberbürgermeister amtiert. So ganz schlecht kann er seinen Job in Tübingen nicht machen, sonst hätten ihn die Menschen dort nicht wiedergewählt.

Sicher, es ist nicht seine erste Provokation, nicht die erste Kontroverse um ihn. „Das Maß ist voll“, sagt Grünen-Landeschef Oliver Hildenbrand. Boris Palmer ähnelt dem Schüler aus der letzten Reihe, der immer wieder und mit System idiotische, verletzende Kommentare raushaut. Die andere lachen über ihn oder schweigen betreten, ab und zu kommt es auch zu einem Widerwort oder sogar einer Prügelei. Es gibt ihn überall, meistens kommt er nicht weit. Und auch das gilt für Boris Palmer: Die große politische Karriere blieb ihm versagt. Aber Parteien brauchen Außenseiter, vielleicht sogar Störer, um im Bild des Klassenzimmers zu bleiben.

Im Grundgesetz heißt es: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. “ An dieser Formulierung hat sich nichts geändert, seit Artikel 21 am 23. Mai vor 72 Jahren in der ersten Ausgabe des Bundesgesetzblattes veröffentlicht wurde. An der politischen Willensbildung mitzuwirken, bedeutet auch, andere Meinungen auszuhalten. Nun lässt sich das N-Wort nicht als andere Meinung verniedlichen. Aber Außenseiter ist Boris Palmer immer wieder gewesen. Ist das nur schlecht? Oder gehört das nicht zwingend zum demokratischen und auch innerparteilichen Diskurs?

Als das Grundgesetz veröffentlicht wurde, lag der Tag der Befreiung gerade mal vier Jahre zurück. Der NSDAP wollte kaum jemand mehr angehört haben, die Partei war mit dem Ende der Diktatur verschwunden. Aber selbst in den Köpfen der Menschen, die nicht Nazis waren, hatten sich Denkbilder festgesetzt, die bis heute nicht ganz aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden sind. Antisemitismus und Rassismus waren ja nicht plötzlich Geschichte und sind es immer noch nicht. Die Parteien bildeten nach dem Krieg ein breites politisches Spektrum ab, alle zusammen und jede für sich.

Das gilt auch für die CDU, wie sich nicht zuletzt im Ahlener Programm von 1947 nachlesen lässt: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“, heißt es da. Diesen Satz dürfte heute nahezu kein CDU-Mitglied unterschreiben wollen, von Friedrich Merz ganz zu schweigen. Die SPD zählte viele Kommunisten in ihren Reihen, die sich zwar vom Sowjetregime abwandten, aber doch auf den Klassenkampf hofften. Es war eine Zeit der politischen Gegensätze, wie man es sich heute kaum noch vorstellen kann. Die CDU lag in der ersten Bundestagswahl mit 31 Prozent der Stimmen nur knapp vor der SPD, gefolgt von der FDP und der KPD.

Die Grünen gibt es erst seit gut 40 Jahren, aber auch sie waren doch lange geprägt von erbitterten Auseinandersetzungen. Realos und Fundis schenkten sich gegenseitig nichts. Längst nicht alle Grünen waren damals so staatstragend, wie es ihre Partei inzwischen ist. Dass einer von ihnen als Außenminister Militäreinsätze rechtfertigen würde, dass ein anderer ausgerechnet in Baden-Württemberg als – zweimal wiedergewählter – Ministerpräsident amtiert und dass nun eine von ihnen gute Chancen hat, Bundeskanzlerin zu werden – niemand hätte das damals für möglich gehalten. Für viele Grüne war der Staat der Feind.

Aber diese Gegensätze tun Parteien gut, sie schärfen Argumente und helfen auf dem Weg zur demokratischen Legitimation der Macht. Eine Partei muss Ränder und Flügel haben, sonst verliert sie sich in Selbstgerechtigkeit. Das Prinzip der Mehrheitsentscheidung schließt ein, dass auch Unterlegene ihren Platz haben müssen. Parteien sollten viel aushalten können, auch Rechthaber, Dummköpfe und Provokateure, solange die nicht gegen Gesetze verstoßen.

Heinrich Lummer, der vor zwei Jahren verstorbene Berliner Innenpolitiker, würde heute in der CDU als Radikaler gelten. Aber sollte sie deswegen einen wie ihn ausschließen? Die SPD hat es mit Thilo Sarrazin durchgezogen und ihn, den ehemaligen Finanzsenator und Bundesbankvorstand, nach mehreren Anläufen rausgeworfen. Seine Fixierung auf „Kopftuchmädchen“ und das gefährliche Narrativ der Überfremdung haben die älteste deutsche Partei überfordert – spricht das für ihre Stärke?

Und nun also Boris Palmer. Die Grünen schicken sich an, eine Volkspartei zu werden, jedenfalls solange man den Osten außen vor lässt. Aber dann müssen sie die rassistische Äußerung eines wenig bedeutenden Kommunalpolitikers aushalten können. Vor einem Ausschlussverfahren hätte es eine nahezu unendliche Liste von Möglichkeiten gegeben, wie die Partei mit seiner offenkundigen Fehlleistung umgehen kann. Die Grünen sollten mehr Souveränität zeigen. Das N-Wort aus Tübingen rechtfertigt nicht die größtmögliche Sanktion, und das nun anstehende langwierige Ausschlussverfahren gibt Boris Palmer die Gelegenheit, sich zu einem Dissidenten zu stilisieren.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort