Nach Raketeneinschlag in Polen Was es mit den Nato-Artikeln vier und fünf auf sich hat

Berlin · Nach dem Raketeneinschlag in Polens Grenzgebiet zur Ukraine kommt die Nato zu einem Dringlichkeitstreffen zusammen. Die wichtigen Artikel vier und fünf des Bündnisvertrags ziehen dabei zunächst nicht. Wann das der Fall wäre und was daraus für Deutschland folgen würde – ein Überblick über die Geschehnisse.

Raketeneinschlag in polnischem Dorf an der Grenze zur Ukraine
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Raketeneinschlag in polnischem Dorf an der Grenze zur Ukraine

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Foto: AFP/WOJTEK RADWANSKI

Am Tag danach: Die Bundesregierung ist „bestürzt“ über den Raketeneinschlag auf polnischem Staatsgebiet an der Grenze zur Ukraine. Zwei polnische Staatsbürger kamen dabei ums Leben. Es ist nahe dran am Albtraum-Szenario der Nato: Dass der Westen in den russischen Krieg gegen die Ukraine hineingezogen werden könnte, weil Nato-Gebiet verletzt wird. Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, sieht nach diesem Vorfall in Polen weiter Priorität, die Ukraine in ihrem Abwehrkampf zu unterstützen. Denn sollte Putin am Ende mit seinem Feldzug in der Ukraine doch noch erfolgreich sein, könnte dies schwerwiegende Folgen haben -- auch für das Bündnis. Heusgen sagt unserer Redaktion: „Mit ihren anhaltenden Raketenangriffen auf die zivile Infrastruktur begeht Russland Kriegsverbrechen. Wir können das nicht schulterzuckend akzeptieren, müssen die Ukraine weiter militärisch unterstützen. Denn: Wenn Putin in der Ukraine erfolgreich ist, könnte er versucht sein, den Krieg tatsächlich in das Nato-Gebiet zu tragen.“

Dass die Allianz womöglich „aus Versehen“ in diesen Krieg hineingezogen werden könnte, glaubt FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff nicht. Der FDP-Fraktionsvize im Bundestag sagt unserer Redaktion: „Nein, die Gefahr einer Beteiligung der Nato ‚aus Versehen‘ an diesem Krieg sehe ich nicht. Ich gehe ausdrücklich nicht davon aus, dass das ein gezielter Angriff auf Nato-Territorium war.“ Die Untersuchungen liefen noch, man sollte deren Ergebnisse abwarten. Lambsdorff plädiert weiter dafür, dass die Nato alles tun sollte, selbst nicht zur Kriegspartei zu werden: „Die Nato wird bei ihrer politischen Linie bleiben. Sie wird die Ukraine weiter unterstützen, was völkerrechtlich zulässig ist, aber auch darauf achten, selbst nicht zur Kriegspartei zu werden, was politisch weise ist.“

Auch laut Nato gibt es keine Hinweise auf einen gezielten Angriff. Und so geht es zunächst darum, den Vorfall aufzuklären. Das Bundesverteidigungsministerium bietet an, die Unterstützung der polnischen Luftwaffe bei der Überwachung ihres Luftraums mit deutschen Kampfjets zu verstärken. Zugleich blicken die Regierenden in Berlin am Mittwoch nach Brüssel, wo der Nato-Rat tagt.

Artikel vier des Nordatlantikvertrages hat zu diesem Zeitpunkt kein Mitgliedsland gezogen, auch Polen nicht. Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes treffen sich die Botschafter der Nato-Staaten mit Generalsekretär Jens Stoltenberg in einer Sondersitzung des Nato-Rates, aber explizit nicht auf Basis von Artikel vier.

Danach könnten die Nato-Staaten „in Beratungen miteinander eintreten, wenn nach der Meinung eines von ihnen die Unversehrtheit des Gebietes, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit irgendeines der vertragschließenden Staaten bedroht ist“. Doch soweit ist es offenbar nicht. Polens Staatspräsident Andrzej Duda spricht von einem „Unfall“. Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki sagt, es sei derzeit nicht nötig, Artikel vier einzusetzen, auch wenn sich Polen diese Möglichkeit offenhalten werde.

Dies gilt dann erst recht für Artikel fünf, den sogenannten Bündnisfall. Danach würde „ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle betrachtet werden“. Artikel fünf ist in der mehr als 73 Jahre langen Geschichte der Nato erst einmal aktiviert worden: nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf die Nato-Führungsmacht USA.

Wird er aktiviert, müssen die Nato-Mitglieder Maßnahmen ergreifen, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten, wie es im Vertrag heißt. Das beinhaltet ausdrücklich auch die Anwendung von Waffengewalt. Die Bundeswehr könnte demnach zur Verteidigung eines anderen Nato-Mitglieds beitragen – ein Zwang besteht dazu aber nicht. In dem Artikel ist nicht geregelt, dass Nato-Mitglieder eigene Truppen entsenden müssen.

Jens Stoltenberg, Nato-Generalsekretär, spricht im NATO-Hauptquartier.

Jens Stoltenberg, Nato-Generalsekretär, spricht im NATO-Hauptquartier.

Foto: dpa/Olivier Matthys

Heusgen, der viele Jahre außenpolitischer Berater der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) war, schließt derweil weitere Raketeneinschläge durch den Ukraine-Krieg auf Nato-Territorium nicht aus: „Der Krieg verläuft in unmittelbarer Nachbarschaft der Nato. Dass eine Art Querschläger im Nato-Gebiet niedergehen könnte, stand und steht zu befürchten.“

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