Wortungetüme und Bandwurmsätze Wie ein Sprachwissenschaftler die Wahlprogramme bewertet

Stuttgart · Sie kosten die Parteien viel Zeit und Kraft. Doch sind Wahlprogramme wirklich so wichtig? Jedenfalls werden sie immer länger. Für viele Wähler sind sie außerdem nur schwer verständlich – vor allem das der Grünen.

 Die Wahlprogramme werden immer unverständlicher zu diesem Schluss kommt Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider von der Uni Hohenheim.

Die Wahlprogramme werden immer unverständlicher zu diesem Schluss kommt Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider von der Uni Hohenheim.

Foto: dpa/Marijan Murat

Wer liest überhaupt Wahlprogramme? Und wer macht sein Kreuzchen wirklich aufgrund der umfangreichen, nicht gerade leicht zu lesenden Kataloge politischer Forderungen? Glaubt man der Analyse des Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider von der Uni Hohenheim, so waren die Wahlprogramme noch nie so umfangreich wie bei der Bundestagswahl 2021. Und nur 1994 waren sie noch unverständlicher.

Die Kommunikationsexperten haben gute Vergleichsmöglichkeiten: 83 Wahlprogramme zu Bundes- und Landtagswahlen haben die Stuttgarter seit der Bundestagswahl 1949 auf formale Verständlichkeit und Sprache analysiert. Auch in diesem Jahr erschweren Bandwurmsätze, Wortungetüme und Fachbegriffe die Verständlichkeit. Das formal verständlichste Programm legt laut Studie die Linke vor, das unverständlichste stammt von den Grünen. Die AfD verwendet die populistischste Sprache.

"Noch nie waren die Wahlprogramme so umfangreich wie diesmal: durchschnittlich 43.541 Wörter pro Programm", sagt Brettschneider. 1949 waren es noch im Schnitt 5.498 Wörter. Traditionell haben die Grünen das umfangreichste Wahlprogramm. 2021 werden sie allerdings von der Links-Partei abgelöst: Mit 68.331 Wörtern ist ihr Programm gut tausend Wörter länger. Die kürzesten Programme haben die AfD und die SPD vorgelegt: jeweils knapp 23.500 Wörter.

Die formale Verständlichkeit misst das Forschungsteam mit Hilfe einer Software, die überlange Sätze, Fachbegriffe und zusammengesetzte Wörter zählt. Der "Hohenheimer Verständlichkeitsindex" (HIX) reicht von 0 (schwer verständlich) bis 20 (leicht verständlich).

Am verständlichsten ist danach Die Linke mit 8,4 Punkten. Den letzten Platz belegen die Grünen mit 5,6 Punkten. Die Wahlprogramme 2021 erreichen im Schnitt 7,2 Punkte. 2017 lag der Schnitt bei 9,2 Punkten. "Das ist enttäuschend", urteilt Brettschneider. "Denn alle Parteien haben sich Transparenz und Bürgernähe auf ihre Fahne geschrieben."

Claudia Thoms, Verständlichkeits-Forscherin an der Uni Hohenheim, nennt viele Beispiele: Da schreiben die Grünen von einer "Fact-Finding-Mission", die Union von "Agri-FoodTech-Wagniskapitalfonds", die AfD von einer "supranationalen Remigrationsagenda", Die Linke von "Antiziganismus", die SPD von "Edge-Computing" oder die FDP vom "Carbon Leakage-Schutz".

Auch Wortungetüme wie "Quellentelekommunikationsüberwachung" (FDP, Linke), "Hochgeschwindigkeitsschienenverkehr" (CDU/CSU) oder "Schuldenstrukturierungsverfahren" (Grüne) lassen stutzen. Den längsten Bandwurmsatz liefert die AfD mit 79 Wörtern. Für Brettschneider ist das kaum nachvollziehbar: Die "teilweise schwer verdaulichen Wahlprogrammen" schlössen einen erheblichen Teil der Wählerinnen und Wähler aus.

Das Hohenheimer Sprach-Team untersucht auch die Tonalität der Sprache: Sie wird durch den Anteil negativer Begriffe im Verhältnis zum Anteil positiver Begriffe bestimmt. "Die Wahlprogramme 2021 sind im Vergleich zu früheren Wahlen sprachlich eher positiver in ihrer Tonalität. Die negativste beziehungsweise am wenigsten positive Sprache zeigt sich bei der AfD und der Linken. Das betrifft nicht nur die aktuelle Wahl, sondern gilt auch im langjährigen Vergleich", sagt Thoms.

Außerdem haben die Hohenheimer Forscher die Verwendung populistischen Vokabulars untersucht. Maßgebend dafür war eine Wortliste, die unter anderen aus Begriffsteilen wie: elit*, undemokratisch*, korrupt*, propagand*, täusch*, betrüg*, *verrat*, scham*, skandal*, wahrheit*, unfair*, unehrlich*, establishm*, *herrsch*, lüge* besteht.

Demnach weisen die aktuellen Programme im Verhältnis zu früheren Wahlen einen verhältnismäßig geringen Grad an sprachlichem Populismus auf - den drittniedrigsten seit 1949. Sprachlich am populistischsten schreibt 2021 die AfD. Im langjährigen Parteienvergleich belegen die Grünen den ersten Platz, was vor allem auf die Anfangszeiten der Partei zurückzuführen ist. Die am wenigsten populistischen Wahlprogramme schreiben im Schnitt die Unions-Parteien. Das dürfte vor allem daran liegen, dass sie am häufigsten von allen Parteien an Regierungen beteiligt waren.

(lils/kna)
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