Wahlkampf in Magdeburg Alle schielen auf die AfD

Magdeburg · Der Schock saß tief, als die AfD 2016 in Magdeburg ein Direktmandat gewann. Nun ist die Partei wieder auf Wahlkampf-Plakaten zu sehen und an jeder Straßenecke zu spüren. Doch es gibt Hoffnung für ihre Konkurrenz.

 Oliver Kirchner ist AfD-Spitzenkandidat in Sachsen-Anhalt und tritt im Norden Magdeburgs erneut als Direktkandidat an.

Oliver Kirchner ist AfD-Spitzenkandidat in Sachsen-Anhalt und tritt im Norden Magdeburgs erneut als Direktkandidat an.

Foto: dpa/Klaus-Dietmar Gabbert

Morgens um sieben ist die Welt eigentlich in Ordnung. Nicht aber vor dem Bahnhof in Magdeburg-Neustadt. Das einst wunderschöne neugotische Gebäude ist völlig heruntergekommen, viele Fenster sind eingeschlagen, und die Zeit ist auf der Bahnhofsuhr stehengeblieben. Auch für Jenny Schulz (46), die Landtagskandidatin der Linken, ist die Welt nicht in der gewohnten Ordnung. Der Magdeburger Norden war lange vom Direktkandidaten der Linken im Landtag vertreten. Seit fünf Jahren von der AfD. Ausgerechnet Magdeburg. Ausgerechnet der Wahlbezirk, der so divers ist wie kaum eine Region. Mit Villen und Plattenbauten, Uni und Gewerbe. Wie konnte das nur passieren? Und wird es sich Sonntag wiederholen?

Die Linke-Kandidatin hat landesweit schrumpfende Werte gegen sich – und schon eine halbe Stunde Pendler-Wahlkampf hinter sich. Eine kleine rote Papiertüte mit Broschüre und Apfel hält sie den Magdeburgern entgegen. Sie haben es fast alle eilig, greifen bei der Aussicht auf den kleinen Snack dann doch zu. Drei Dutzend wird sie in der frühen Morgenstunde los. Da, wo ihr Wahlbezirk mit zerfallener Architektur ahnen lässt, dass sich die meisten vor fünf Jahren nicht nur wegen der Flüchtlingskrise der AfD zuwandten. Sondern weil sie sich zu kurz gekommen fühlen.

Von der 2016er-Migrationskrise ist im Magdeburger Norden ein Migrationsproblem mit Rumänen übriggeblieben. Und eine andere Krise ist hinzugekommen: Die Pandemie, die in denselben Plattenbauten bei denselben Menschen mit geringem Einkommen und geringer Bildung dieselbe Existenzangst verstärkt. Der damalige Überraschungssieger war ein Unbekannter. Nun ist Oliver Kirchner (55) Fraktionschef einer betont rechtsextrem aufgestellten AfD. Schreiend seine Großflächenplakate mit der Aufforderung, „WIDERSTAND“ an der Wahlurne zu leisten. Es scheint, als habe seine AfD die Protestfunktion der Linken absorbiert: Alle einsammeln, die irgendwie dagegen sind.

Aber es gibt Hoffnung im Landtagswahlkreis 10. Das völlig heruntergekommene Hotel am Bahnhof wird gerade saniert. In der Brauerei-Ruine ein paar Hundert Meter weiter entstehen schicke Lofts. Am Hafen wachsen die mittelständischen Innovationen wie Pilze aus dem Boden. 

Und Hoffnung verbreiten auch die anderen Kandidaten. Zum Beispiel Julia Brandt. Die 37-Jährige geht tough nach vorne, wenn Passanten auf dem tristen Nicolaiplatz ihren SPD-Stand passieren. Natürlich steht im gesamten regionalen Wahlkampf in jeder Straße ein blauer Elefant mit der Frage, wie viele AfD-Wähler hier wohl wohnen. Aber Brandt stellt nicht nur ein rotes Quietsche-Entchen als Präsent dagegen. Sondern als Mitglied des Stadtrates auch viel kommunalpolitisches Know-how. Denn die Gespräche drehen sich allesamt nicht um die Landespolitik, über die Sonntag entschieden wird, sondern um kommunale Missstände.

Angesichts der Aussichten für ihre Partei betrachtet sie persönlich die SPD als „Langzeitprojekt“. Angesprochen auf die „gute alte Zeit“ einer SPD mit Wahlergebnissen über 40 Prozent, rümpft sie die Nase. Sie arbeitet lieber für eine SPD, die nicht mehr so männerdominiert ist wie die der großen SPD-Kanzler. Konsequent spricht sie nicht von „Kandidaten“, sondern nur von „Kandidierenden“. Und macht sich mit einer Erkenntnis Mut für viele weitere energiegeladene Wahlkampftermine: „Sachsen-Anhalt ist immer eine Wundertüte, da lohnt es sich, bis zuletzt um jede Stimme zu kämpfen.“

Das sagt sich auch der 37-jährige Matthias Borowiak, der am frühen Abend nach seinem Dienst als Qualitätsmanager eines Pharma-Unternehmens von Haus zu Haus zieht, um Flyer in die Briefkästen zu stecken. Heute ist das Neustädter Feld rund um die Kita „Bussi-Bär“ an der Reihe. Der Kandidat der Grünen staunt selbst, wie viele schicke Einfamilienhäuser und kleine Villen zwischen den Reihenhäusern stehen, liebevoll gepflegt, von gutem Einkommen kündend. Das ist für Borowiak eine „gute grüne Wiese“, sprich: seine Flyer dürften hier überproportional Grünen-Wähler motivieren. Als Gesundheitsexperte kann er sich gut vorstellen, das Kapitel in Koalitionsverhandlungen zu betreuen. In der für alle drei Beteiligten überraschend stabilen Kenia-Koalition aus CDU, SPD und Grünen sieht er weniger Möglichkeiten als in einer Jamaika-Koalition aus CDU, Grünen und FDP.

Lydia Hüskens bekommt leuchtende Augen, wenn sie an diese Chancen denkt. Die 57-Jährige sitzt im Präsidium der Bundes-FDP, ist die Spitzenkandidatin der FDP in Sachsen-Anhalt und fühlt sich seit fast drei Jahrzehnten im Magdeburger Norden wohl. Mag man der in Geldern geborenen Liberalen die niederrheinische Sprachfärbung auch noch anhören, auf „Machdeburch“ lässt sie nichts kommen. Hier saß sie schon im Landtag, bevor für die FDP die Durststrecke der zehn außerparlamentarischen Jahre anbrach. Und hier wird sie Sonntag wohl nicht nur den Einzug ins Landesparlament, sondern gleich auch in die Landesregierung erleben dürfen. Auch eine „Deutschland-Koalition“ aus CDU, SPD und FDP steht auf dem Plan.

Und deshalb stellt Hüskens wenige Tage vor der Wahl schon mal ein „Sofortprogramm“ vor mit den zehn wichtigsten Forderungen, um Sachsen-Anhalt wieder „hochzufahren“. Nach der Wende habe Sachsen-Anhalt schon einmal gezeigt, wie viel Dynamik in ihm stecke, die wolle die FDP nun erneut stimulieren. Ihre Körpersprache verrät neues Selbstbewusstsein. Breitbeinig steht sie im Hotel Ratswaage vor Journalisten und wirbt für ihre Konzepte. 

Ein imaginärer blauer Elefant trampelt auch immer wieder durch den CDU-Wahlkampf. Die Befürworter von Machtexperimenten mit der AfD („Das Soziale mit dem Nationalen versöhnen“) stehen auf Platz drei und vier der CDU-Landesliste. Sie hätten lediglich eine „zweite Chance“ bekommen, die Beschlusslage hingegen sei „eindeutig“, versichert Stephen Gerhard Stehli (59). Er tritt mit dem Ehrgeiz an, der AfD das Direktmandat wegzunehmen. „Das hat der Magdeburger Norden nicht verdient“, sagt er mehrfach vor dem Einkaufszentrum an der Agnetenstraße. Und er erntet dafür jedes Mal Zustimmung.

Auf 50 zu 50 schätzt der Jurist seine Chancen, von der Landesverwaltung ins Landesparlament zu wechseln. In der Stunde mit Flyerverteilen und direkter Wähleransprache gibt es immer wieder das Phänomen, dass die Menschen mit ihren vollen Einkaufswagen von selbst zum CDU-Stand fahren und nach Material fragen. Zumindest hier scheint das Konzept „nicht wieder AfD“ aufzugehen.

 Stephen Gerhard Stehli von der CDU an seinem Wahlkampfstand.

Stephen Gerhard Stehli von der CDU an seinem Wahlkampfstand.

Foto: Gregor Mayntz
Wahlkampf in Magdeburg: Alle schielen auf die AfD
Foto: grafik
 Plakate der AfD mit Landeschef Oliver Kirchner stehen an der B71 in Magdeburg.

Plakate der AfD mit Landeschef Oliver Kirchner stehen an der B71 in Magdeburg.

Foto: imago images/Jan Huebner/Michael Taeger/imago

Er ist seit drei Jahrzehnten zu Hause in Magdeburg, predigt und tauft ehrenamtlich im Dom. Geboren wurde er – wie Donald Trump – im New Yorker Stadtteil Queens. Der sei so divers wie sein Wahlkreis in Magdeburg, erklärt Stehli. So nimmt der CDU-Kandidat die letzte US-Präsidentschaftswahl auch als gutes Omen für seinen eigenen Wahlkampf. Selbst in seiner Heimat hatte der Rechtspopulist Trump keine Mehrheit. Das will Stehli am Sonntag in seiner neuen Heimat mit den Rechtspopulisten wiederholen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort