SPD-Politiker mit Tourette zieht in Landtag ein Bijan Kaffenberger will nicht „der Vorzeigepolitiker mit Behinderung“ sein
Wiesbaden · Bijan Kaffenberger hat Tourette und geht selbstbewusst damit um. Bei der Wahl in Hessen gewann er ein Direktmandat - als einziger SPD-Kandidat. Seine Partei könne aus seinem Erfolg lernen, meint der junge Politiker.
Ein Kamerateam der „Deutschen Welle“ begleitete Bijan Kaffenberger vor der Landtagswahl in Hessen, als der 29-Jährige von Haustür zu Haustür ging und für sich warb. Einen Ausschnitt veröffentlichte der Sender auf Twitter. In einer Szene stellt sich der SPD-Politiker gerade einem älteren Mann vor, sein Kopf zuckt dabei immer wieder ruckartig nach vorn, nach links, nach rechts. Aber Kaffenberger bleibt ruhig. „Ich habe Tourette-Syndrom, vielleicht fällt es Ihnen auf“, erklärt er dem Mann.
Kaffenberger geht selbstbewusst mit dem Tourette-Syndrom um, einer neuropsychiatrischen Erkrankung mit sogenannten Ticks - zum Beispiel unwillkürlichen, raschen Bewegungen. In Deutschland seien etwa 40.000 Menschen betroffen, berichtet die Tourette-Gesellschaft. Viele Menschen kennen die Erkrankung vermutlich durch den Film „Vincent Will Meer“, in dem Florian David Fitz einen jungen Mann mit Tourette spielt.
„Tourette ist Teil meiner Persönlichkeit und gehört zu mir“, sagt Kaffenberger. Die Erkrankung schrecke die Menschen nicht ab, sondern mache es ihnen vielleicht sogar leichter, auf ihn zuzugehen, glaubt er: „Man fühlt sich vertrauter im Umgang.“ Schließlich habe jeder sein Päckchen zu tragen. Und: „Authentizität ist den Leuten total wichtig“. Aber es habe einige Zeit gebraucht, bis er gelernt habe, mit seinen Ticks selbstbewusst umzugehen, erzählte er einmal dem Magazin „Vice“. Heute denke er: „Wenn man doch die Gewissheit hat, dass man für seine Krankheit nichts kann, warum sollte man sich dafür schämen? Schämen sollte man sich nur für Dinge, die man selbst verschuldet hat.“
Schon lange vor der Landtagswahl in Hessen ging er in die Öffentlichkeit: Auf Youtube veröffentlichte unter dem Namen „Tourettikette“ Videos und sprach über Sex, Weihnachten und auch seine Ticks. In einem Video liest er Fragen vor, die ihm Zuschauer geschickt haben. Einer will zum Beispiel wissen, wie gut seine Feinmotorik ist. „Du würdest Dich wundern“, antwortet Kaffenberger. Er könne auch ein Kartenhaus bauen. Aber manche Sachen wolle er gar nicht können. „Wer hat denn Lust auf einen Samstagabend Mikado mit der Familie?“
Künftig wird er im hessischen Landtag sitzen. Während seine Partei bei der Wahl am Sonntag auf 19,8 Prozent abrutschte, gewann Kaffenberger den Wahlkreis Darmstadt-Stadt II als Direktkandidat für die SPD - dabei war der Wahlkreis seit 2009 in der Hand der CDU. Dem Hessischen Rundfunk sagte er am Wahlabend: „Ich kann das Ergebnis noch gar nicht fassen, es ist eine Überraschung.“ Aber sein Erfolg zeige, was möglich sei, wenn sich die SPD personell erneuere und „konsequent an sich arbeitet“. Im Parlament will er sich auf Themen konzentrieren, „die alle Menschen jeden Tag betreffen“: Mobilität, Wohnen und Bildung, auch Digitalisierung. Er wehrt sich dagegen, auf das Thema Inklusion beschränkt zu werden. „Ich fände es verheerend, wenn man sagt: Jetzt haben wir hier einen, der hat ‚was’, lasst doch den die Inklusion machen“, sagte Kaffenberger dem Magazin „jetzt“. „Ich habe kein Interesse daran, der Vorzeigepolitiker mit Behinderung zu sein.“
Mit Material der Nachrichtenagentur dpa