Landtagswahl am Sonntag Hessen ist das Land der Experimente

Berlin · Hessen war schon manches Mal Vorreiter für neue politische Konstellationen. Es liegt wieder Umbruch in der Luft. Am Sonntag wird gewählt.

 Die Spitzenkandidaten der aussichtsreichsten Parteien für die Landtagswahl in Hessen: Rene Rock (FDP, l-r), Janine Wissler (Linke), Tarek Al-Wazir (Grüne), Rainer Rahn (AfD), Volker Bouffier (CDU, Ministerpräsident von Hessen), und Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD).

Die Spitzenkandidaten der aussichtsreichsten Parteien für die Landtagswahl in Hessen: Rene Rock (FDP, l-r), Janine Wissler (Linke), Tarek Al-Wazir (Grüne), Rainer Rahn (AfD), Volker Bouffier (CDU, Ministerpräsident von Hessen), und Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD).

Foto: dpa/Frank Rumpenhorst

Tarek Al-Wazir rührt die Glaskugel erst gar nicht an. Wolkenschieberei – alles nicht sein Ding. Gerade haben Parteivorstand und Parteirat der Bundesgrünen in Berlin beraten. Über Diesel, über Waffenexporte, über Atomwaffenvertrag und – da war doch noch was: über Hessen. Sollen doch in diesen letzten Tagen des hessischen Landtagswahlkampfs alle spekulieren – über Rot-Grün, über Schwarz-Rot, über Schwarz-Grün, über Grün-Rot-Rot, über Rot-Rot-Grün. Was die politische Farbpalette nun mal so hergibt. Grünen-Spitzenkandidat Al-Wazir, zugleich Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident in Hessen, hat dazu am Montag zwei Botschaften. Erstens: „Ich möchte, dass die Grünen so stark werden, dass keiner an uns vorbeikommt.“ Und zweitens: „Ich koaliere mit dem, mit dem ich am meisten Grün umsetzen kann.“ Sachpolitik, kein Streit für die Galerie, keine Personalspekulationen.

Nach der letzten Landtagswahl 2013 war die Hessen-CDU mit ihrem Spitzenkandidaten Volker Bouffier für Al-Wazir die Option mit der größten Schnittmenge – und umgekehrt. In Hessen, dem Land der Experimente, in dem 1985 ein ehemaliger Sponti namens Joseph Martin Fischer, genannt Joschka, der weltweit erste Minister mit Grünen-Parteibuch wurde. Turnschuhe, Jeans, Alibi-Sakko. Man kennt die Bilder. 2013 dann die erste schwarz-grüne Koalition in einem Flächenland. Konservativer CDU-Landesverband mit eher linkem Landesverband der Grünen – kann das gutgehen?

Es ging gut. Sehr gut sogar. Fast fünf Jahre haben Bouffier und Al-Wazir sauber, geräuschlos und unfallfrei miteinander gearbeitet, aber jetzt, im Endspurt dieses Wahlkampfs, gilt dann doch: Jeder arbeitet auf eigene Rechnung.

Zeitenwende? Zeit für Grün-Rot-Rot? Oder für Rot-Grün-Rot? Thorsten Schäfer-Gümbel will es nun im dritten Anlauf als SPD-Spitzenkandidat schaffen, endlich Ministerpräsident in Hessen zu werden. Hier hatten die Sozialdemokraten einmal die absolute Mehrheit. Die schlechten Umfragewerte und das bayerische einstellige Wahlergebnis treiben den Genossen den Angstschweiß auf die Stirn – auch wenn die Aussichten in Hessen gut sind und es sogar für den Sprung in die Regierung reichen könnte. In weiten Teilen der Partei sitzt mittlerweile die Abneigung gegenüber der großen Koalition zu tief. Einzig Abgeordnete in der SPD-Bundestagsfraktion verweisen noch besonders häufig auf die eigentlich gelingende Sacharbeit mit der Union. Aber die Kritiker der großen Koalition fühlen sich berufen, in Hessen ein Exempel zu statuieren. Während SPD-Vize Ralf Stegner sagt, vor der Wahl verbiete sich jedwede Koalitionsspekulation, sagt die Parteilinke Hilde Mattheis: „Die SPD sollte immer zwei Ziele im Wahlkampf verfolgen: stärkste Kraft werden und ein progressives Bündnis anstreben, um unsere Inhalte durchzusetzen.“ In Berlin und Thüringen funktioniere Rot-Rot-Grün „in unterschiedlicher Konstellation“. In Erfurt wird die Landesregierung vom Linken-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow angeführt. Also wäre auch ein Grüner an der Spitze eines solchen Bündnisses für die Genossen denkbar? Durchaus, so scheint es, schließlich zähle vor allem die Regierungsverantwortung. 

Für die Linken war die – indirekte – Machtbeteiligung vor fast genau zehn Jahren in Hessen greifbar nah. Die damalige SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti  wollte sich am 4. November 2008 zur Ministerpräsidentin einer von den Linken tolerierten rot-grünen Minderheitsregierung wählen lassen und damit den seit 1999 regierenden Christdemokraten Roland Koch ablösen, dessen Partei bei der Landtagswahl nur 0,1 Prozentpunkte vor der SPD lag. Ein gewagtes Experiment. Ypsilanti scheiterte schließlich an der eigenen Partei. Vier Sozialdemokraten durchkreuzten ihre Pläne. Es kam zur Neuwahl mit SPD-Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel. Die SPD verlor drastisch. Koch blieb bis zu seinem Rücktritt 2010 Ministerpräsident. 

Linksfraktionschef Dietmar Bartsch sagt: „Die Linke hat in Hessen bewiesen, dass sie für einen Politikwechsel zur Verfügung steht. Je stärker wir in Hessen werden, desto größer wird der Druck, jenseits der Union und Volker Bouffiers eine Regierung zu bilden.“ Angesichts des „Kulturkampfs von rechts“ wäre es ein bedeutendes bundespolitisches Signal, wenn die Linke erstmals in einem westdeutschen Flächenland in die Regierung käme. „Es wird eine Wahl, die herausragende Bedeutung auch für die Bundesparteien haben kann. In Hessen geht was. Wenn die CDU nicht an der Macht bleibt, wäre der Weg für tiefgreifende Veränderungen im Land und Bund frei.“

Bouffier ist inzwischen dienst­ältester Ministerpräsident in Deutschland und hat mit Al-Wazir überraschend harmonisch zusammengearbeitet. Deshalb wird auch bei Linken mit Sorge gesehen, dass ihre Spitzenkandidatin, die 37-jährige Janine Wissler, keinen ausreichend engen Draht zu Al-Wazir knüpfen könnte, zumal Kapitalismus für sie ein „grausames System“ ist. So liegt die Vermutung nahe, dass Al-Wazir – würden die Grünen nach der CDU zweitstärkste Kraft – eher Grün-Rot-Gelb als Grün-Rot-Rot machen würde. Ein Experiment wäre es aber in jedem Fall.

(jd/kd/hom)
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