Biografie über Annegret Kramp-Karrenbauer „Lass sie lesen“

Berlin · Die RP-Autorinnen Kristina Dunz und Eva Quadbeck haben eine Biografie über Annegret Kramp-Karrenbauer geschrieben. Auszüge aus dem Buch, das am 12. Oktober erscheint.

 Annegret Kramp-Karrenbauer 1969 als Erstklässlerin.

Annegret Kramp-Karrenbauer 1969 als Erstklässlerin.

Foto: Privatarchiv Kramp-Karrenbauer

Kindheit – „Lass sie lesen“

Nach dem Mittagessen hat es sich die Zehnjährige auf dem Sofa bequem gemacht. Ihre Beine ruhen angewinkelt auf dem Sitzkissen der Couch. Das Mädchen hat das Kinn auf die Brust sinken lassen und sich in ein Buch vertieft. Das Klappern in der Küche hört es nicht. Die Mutter taucht mit feuchten Spülhänden im Türrahmen auf, ein Geschirrtuch in der Hand. Sie ruft: „Annegret, abtrocknen!“ Immer dasselbe, auf diesem Ohr ist das Kind taub. In der Küche türmt sich der Abwasch der Großfamilie mit drei Mädchen und drei Jungen, aber die jüngste Tochter hat Besseres zu tun. Es duftet noch nach geschmortem Fleisch und Soße, es ist Sonntag. Annegret verschlingt jetzt aber das nächste Buch und rührt sich nicht.

Dem Vater, von Beruf Lehrer, geht das Herz auf, wenn sich seine jüngste Tochter aus der Bücherei zum Erstaunen der Leute deutsche oder sogar russische Literatur ausleiht. Die Mutter wartet, der Vater brummt: „Lass sie lesen.“ Er greift sich dann selbst das Geschirrtuch und übernimmt die Arbeit, die in den 1960er- und frühen 70er-Jahren eigentlich die Töchter zu erledigen haben.

Die Eltern sind katholisch und fest im Glauben. Sie singen im Kirchenchor und erziehen ihre Kinder Ulrike, Evi und Annegret und Engelbert, Hans-Günter und Michael streng – die älteren noch mehr als die jüngeren. Ihr Weltbild ist konservativ, wie das ihrer Nachbarn auch. Sonntags geht die Familie in die Kirche. Man zieht sich dafür feiner an als an Werktagen. Schon auf dem Weg dorthin riecht es aus den Häusern nach Braten, den die Hausfrauen vor dem Kirchgang aufgesetzt haben. Vor dem Essen beten die Familien und danken Gott für das, was sie haben.

Jetzt sprechen die Geschwister über die Karriere der prominenten Schwester. Sie sind stolz auf die Frau, die für sie auch heute noch „es Anne“ ist. AKK sagt hier niemand. Die Frage, ob sie gern mit ihr tauschen würden, wird einhellig mit Ausrufezeichen beantwortet: „Oh, nein!“, „Niemals!“, „Nicht für Geld und gute Worte!“ Sie diskutieren mit ihrer Schwester auch nicht über Politik.

Über ihren Wechsel nach Berlin sind die Geschwister geteilter Meinung. Ulrike Kreutz sieht ihn skeptisch. Sie sagt, ihre Mutter hätte wahrscheinlich auf dem Standpunkt gestanden: Ministerpräsidentin im Saarland – das ist ein toller Posten, Parteibonze in Berlin – das geht nicht. Die anderen Geschwister sehen das weniger kritisch. Sie trauen ihrer Anne auch noch mehr zu. Bruder Hans-Günter erzählt von ihrer Zeit als Beigeordnete im Stadtrat Püttlingen, wie sie sich schon als „junge Frau im Haifischbecken“ durchgesetzt habe. Damals habe er schon gedacht: „Die wird mal eine ganz Große.“ Seine Anerkennung für die Schwester ist hoch: „Sie kann knallhart analysieren.“ Der Familienrat ist sich weitgehend einig: Es Anne kann es ins Kanzleramt schaffen.

Der Sprung nach Berlin – „Es ist etwas passiert“

Helmut Karrenbauer starrt auf sein Handy. Vier verpasste Anrufe. Zwei von seiner Frau und zwei vom Chef der Sicherheit. Es ist 6.15 Uhr. Was würde er jetzt dafür geben, wenn er nicht recht behalten würde. Er war dagegen, dass sie noch in der Nacht zurück nach Berlin fährt. 700 Kilometer. Nach einem so langen Tag. Und vor allem vor einer solch entscheidenden Verhandlungsrunde, in der irgendwann die Uhr angehalten wird, um den Durchbruch doch zu schaffen, bevor die Frist abläuft. Nachtsitzung programmiert. Das ist doch alles Wahnsinn, gedankt wird es einem sowieso nicht, ist er überzeugt. Der Mann mit den blonden Haaren und der starken Statur, dem die Biker-Kluft besser gefällt als der Smoking, kann dieser Art des Politikbetriebs nicht viel abgewinnen. Dieser Raubbau an der Gesundheit, in diesen verrückten Zeiten. Noch nie hat Deutschland so lange um eine neue Regierung gerungen wie jetzt, und seine Frau mittendrin. Im Hauptberuf Ministerpräsidentin im Saarland, im nervenzerfetzenden Nebenjob seit Monaten Unterhändlerin für eine Koalition im Bund. An Freizeit, Familienleben – und wenn es nur ein gemeinsamer Spaziergang mit ihrem Tibet-Terrier Stifler wäre – ist kaum noch zu denken. Aber dass seine Frau auch noch im Auto die Nacht verbringen soll, hat für ihn wirklich nichts mehr mit Vernunft zu tun. Es gibt „Palaver“, wie der Saarländer sagt. Nützt aber nichts. Sie fährt los. Seine Anne hat schon immer gemacht, was sie wollte. Jetzt, an diesem frühen Morgen, wählt er ihre Handy-Nummer – ohne Erfolg. Ihm ist klar: „Es ist etwas passiert.“

Die Kanzlerin zählt auf diese Frau. Auf Annegret Kramp-Karrenbauer, die Christdemokratin mit der langen Partei- und Regierungserfahrung, die mit ihrem überraschend hohen Wahlsieg im Saarland im Frühjahr 2017 der wachsenden Begeisterung im Land für die SPD und ihren Kanzlerkandidaten Martin Schulz einen empfindlichen Dämpfer versetzt hatte. Sie war mal wieder unterschätzt worden. Vielleicht zum letzten Mal. Bei Merkel hörte das auch irgendwann auf.

Die Krise – „C wie Chaostage“

In der Telefonschalte des Präsidiums am Morgen dieses 14. Juni um 8 Uhr warnt Kramp-Karrenbauer davor, der Kanzlerin – wie die CSU es gemacht hat – Bedingungen zu stellen und Fristen zu setzen für eine Einigung mit den EU-Partnern, die schon seit Jahren keine Solidarität in der Flüchtlingsfrage kennen. Sie beschwört die Einheit von CDU und CSU, aber auch den Stolz, die Würde und das Selbstbewusstsein der Christdemokraten. Die Saarländerin ist bekannt für ihre Konfliktfähigkeit, die sie über Jahre in der Runde der 16 Ministerpräsidenten mit ihren so unterschiedlichen Interessen bewies. Von der Parteibasis bis zur mittleren Führungsebene loben CDU-Leute, dass endlich wieder ein Profi im Konrad-Adenauer-Haus sitze. Viele Jahre habe es so gut wie keine Kommunikation mit den Landesverbänden gegeben, heißt es. Merkel habe sich als Parteivorsitzende und Kanzlerin dafür schon lange keine Zeit mehr genommen, aber ihren bisherigen Generalsekretären auch keine Prokura gegeben. Bei Kramp-Karrenbauer ist das anders. Sie ist eher die geschäftsführende Parteivorsitzende, wie es einst Heiner Geißler war, ihr Vorbild in dem Amt.

In der Schalte wird ein Kompromissvorschlag vorgetragen, bei dem es im Wesentlichen um bilaterale Abkommen mit den EU-Staaten zur Rücknahme von Flüchtlingen geht. Wie immer bei diesen Telefonkonferenzen mit so vielen Zuhörern knackt es in der Leitung, man hört Räuspern oder Seufzen und bekommt inhaltlich nicht alles mit. Dennoch wirken fast alle Präsidiumsmitglieder mit dem Kurs der Generalsekretärin einverstanden.

Jens Spahn, der Gesundheitsminister und Merkel-Kritiker, fordert, der Kompromissvorschlag solle der Unionsfraktion vorgelegt und dann darüber abgestimmt werden. Er werde der Mehrheit folgen. Spahn wird die Stimmung zwei Tage zuvor, am 12. Juni, in der Fraktion im Hinterkopf gehabt haben, die sich gegen Merkel gedreht hatte. Hätten sie da gleich abgestimmt, wäre die Kanzlerin vielleicht bereits hinweggefegt worden von der plötzlich hochgekochten Wut in der Unionsfraktion.

Kramp-Karrenbauer verlässt diese Fraktionssitzung vor dem Ende. Sie ist dort nur Gast. Der Bundestag ist nicht ihr Revier, die Saarländerin hat kein Mandat. Eine mögliche Achillesferse in ihrem sonst so perfekten Werdegang zur Generalsekretärin der letzten großen Volkspartei.

„Ich kann, ich will und ich werde“, Propyläen-Verlag, 304 Seiten, 22 Euro, ab dem 12. Oktober.

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