Machtwechsel in Baden-Württemberg Volksfest für die Mappus-Gegner

Stuttgart (RP). In der Innenstadt von Stuttgart rund um Schlosspark und Schlossgarten fand am Sonntag bis in den späten Wahlabend eine große grün-rote Wahlparty statt. Die politische Wende lag früh in der frühlingshaften Luft. Die CDU ertrug Prognose und Hochrechnungen mit Fassung und reichlich Trollinger.

Mappus-Gegner feiern auf dem Stuttgarter Schlossplatz
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Mappus-Gegner feiern auf dem Stuttgarter Schlossplatz

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Manchmal glaubt man zu spüren, dass bald etwas Besonderes passiert, vielleicht etwas Außergewöhnliches. Der Volksmund sagt dann, es liege was in der Luft. Am Nachmittag des Wahlsonntags im frühlingshaften Stuttgart war solch ein Moment der Vorahnung einer in Kürze eintretenden politischen Wende, die das Zeug zur Sensation besitzt. Metropolen eignen sich besonders als Seismografen. Und in der baden-württembergischen Landeshauptstadt mit ihren rund 700.000 Einwohnern war der bevorstehende Regierungswechsel nach sage und schreibe fast 58 Jahren mit Unions-Ministerpräsidenten zu erahnen.

Das, wohlgemerkt, war der Gefühlsstand eineinhalb Stunden vor der ersten Prognose um 18 Uhr. In der feinen Stuttgarter Königstraße, die als Fußgängerzone 100 Meter vom Hauptbahnhof entfernt in die Innenstadt führt, flanieren Jung und Alt. Hier scheint man den Osterspaziergang vorwegnehmen zu wollen, hier ist am Wahlsonntag-Nachmittag "des Volkes wahrer Himmel": Sonnenschein. Die Straßencafés haben die Stühle nach draußen gestellt, kein Platz bleibt leer.

Titanic-Symbolik

Plötzlich fällt einem der Noch-Ministerpräsident Stefan Mappus ein, der im Wahlkampf immer wieder gesagt hatte, in Baden-Württemberg gehe es den Menschen besser als woanders, die durchschnittliche Lebenserwartung sei in keinem Bundesland höher, und nirgendwo sonst seien die Leut' so zufrieden wie im properen Südwest-Staat.

Dann sieht man ein älteres Ehepaar, dem Äußeren nach gut situierte Bürger. Er schreitet energisch vorwärts zur "Mappus-muss-weg"-Party, welche die Gegner des heiß umstrittenen Bahnhof-Projekts Stuttgart 21 am Schlossplatz vor dem Königsbau organisiert haben. Hinter ihrem Mann geht sie, an einem Holzstock hat sie ein Plakat befestigt. Darauf ist ein Riesenschiff zu sehen, das schon halb gesunken ist, während die Galionsfiguren Stefan Mappus und Angela Merkel (mit ausgebreiteten Armen) vorne am Bug lächeln. Titanic-Symbolik. Der Zufall will es, dass eine junge Straßenmusikantin in der Nähe des Ehepaares dazu auf ihrer Geige die elegische Titelmusik aus dem Hollywood-Knüller "Titanic" fiedelt.

Freche Anti-Mappus-Sprüche

Der herrliche Platz am Königsschloss — satter grüner Rasen, Stiefmütterchen-Beete dazwischen — füllt sich von Minute zu Minute immer mehr. Väter, Mütter, Opas, Omas, Kind und Kegel sind gekommen, um vorzufeiern, was gleich mit Sicherheit geschehen würde, wie man meint: die große Wende auf Baden-württembergisch, Abwahl von Schwarz-Gelb, vor allem von Mappus, den man an den Werbe-Tischen von Grünen und "Parkschützern", wie sich die radikalen Stuttgart-21-Gegner nennen, mit frechen Sprüchen wie diesem veräppelt: "Mops zu sein ist eine Ehre, wenn nur nicht dieser Eine wäre."

Im Bahnhof-nahen "Café Moser" sagt ein Tübinger mit Glatze, der politisch ein Zeichen setzt und zum roten Blouson einen grünen Puli trägt: "Ich bin noch nie an einem Wahltag nach Stuttgart gekommen, habe immer zu Hause auf der Couch gesessen und ferngesehen. Aber diesmal isch was anders, ab heut' isch des Land net mehr schwarz." Sprach's, stürzte seinen Kaffee hinunter und rauschte ab in Richtung Schlossplatz, zur "Mappschiedsparty". Dort spielt inzwischen eine Band auf, man feiert, bevor es wirklich etwas zu feiern gibt.
Dann die 18-Uhr-Prognose, 15 Minuten danach die erste Hochrechnung. Jubel, Trubel, Heiterkeit, Hüpfen, Umarmen, applaudieren, je mehr festzustehen scheint: Schwarz-Gelb hat verloren, Mappus muss gehen.

Skeptiker werden überfeiert

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer, ein prominenter Grüner, mahnt zur Vorsicht, die Sache sei noch nicht entschieden, man bedenke die Unwägbarkeit des heimischen Wahlsystems. Mehrere Tausend Menschen in der City mögen solche Bedenken nicht hören. Sie vermitteln den Eindruck, es brächen jetzt neue Zeiten an, und man dürfe sagen, man sei dabei gewesen.

Ein junger Grüner, nicht älter als 20 Jahre, meint: "Dass ich das noch erleben darf." Ein komischer Satz für einen Blutjungen, aber die ganze rot-grüne Schar in der Königstraße, am Schlossplatz, im Schlosspark am Landtagsgebäude ist außer sich vor Begeisterung.

Bei der CDU herrscht etwas andere Stimmung

Man hört in der ersten halben Stunde nach 18 Uhr auch wieder kreischende "Wahnsinn"-Rufe, zuletzt so erlebt in Ost-Berlin, als sich die Mauer auftat.
Im Restaurant des Landtags ("Hasenstall" nennen ihn die Abgeordneten) hockt ein Dutzend entgeistert wirkender CDU-Sympathisanten. Einer grummelt: "Wie gut, dass wir den Trollinger haben." Er hebt sein Glas zum traurigsten Prosit des ganzen Wahlabends.

Die SPD feiert, obwohl sie gegenüber 2006 wiederum Prozente verloren hat. Im noblen Hotel Zeppelin am Hauptbahnhof ruft ein vom offenbar bevorstehenden Wechsel beseelter Jungsozialist: "Herrlicher Tag, die CDU ist Opposition, nach 58 Jahren." Umstehende Genossinnen und Genossen setzten brüllend nach: "Jetzt geht's lo-hos, jetzt geht's lo-hos."

Kretschmann schon statthaft

Dann kommt der Gewinner des Abends ins Bild: der 62 Jahre alte Spitzen-Grüne Winfried Kretschmann. Als er im Triumph maßvoll formuliert und mit seinem anthrazitfarbenen Anzug, dem weißen Hemd, der gestreiften Krawatte wie der künftige Herr im Regierungssitz Villa Reitzenstein ausschaut, raunt ein SPD-Schwabe: "Wenn der Minischterpräsident wird, isch es mir recht so." Kretschmann wirkt wie die Fleisch gewordene Entwarnung. In den frenetischen Jubel seiner Anhänger scheint er hineinrufen zu wollen: "Wir bleiben auf dem Teppich."

Blende auf den Schlosspark, zur "Mappschiedsparty": Ein junges Pärchen schaut Eis essend auf den Riesenbildschirm, als Kretschmann sagt: "Wir wollen den Politikwechsel mit der Bevölkerung zusammen einleiten." Das Pärchen guckt sich an. Sie nimmt das Eishörnchen von den Lippen und sagt zu Ihm: "Ein wirklich guter Typ, ein bisschen wie Onkel Hans, findest du nicht?" Er nickt ihr zu.

(RP)
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